14. Das Lebesguesche Maß


 

14.1 Das Maßproblem

 

14.1.1 Ein erstes Beispiel

 

Unser Ziel ist die Konstruktion einer Inhaltsfunktion, also einer Funktion, welche für möglichst viele geometrische Mengen des \( \mathbb R^n \) einen Inhalt berechnet. Dazu beginnen wir mit der

 

Definition: Es bezeichne \( \Omega\subset\mathbb R^n \) eine beschränkte Menge. Dann heißt \[ \chi_\Omega(x) :=\left\{ \begin{array}{ll} 1, & \mbox{falls}\ x\in\Omega \\ 0, & \mbox{falls}\ x\not\in\Omega \end{array} \right. \] ihre charakteristische Funktion.

 

Beispiel: Auf kompakten Intervallen \( [a,b]\subset\mathbb R \) kennen wir das Riemannsche Integral, mit dessen Hilfe wir folgende Inhaltsfunktion definieren können \[ \mu([a,b]) :=\int\limits_a^b\chi_{[a,b]}\,dx =\int\limits_a^b1\,dx =b-a. \]

 

Gegenbeispiel: Die Dirichletsche Sprungfunktion \[ \chi_D(x) :=\left\{ \begin{array}{ll} 1, & \mbox{falls}\ x\in\mathbb Q\cap[0,1] \\ 0, & \mbox{falls}\ x\in[0,1]\setminus\mathbb Q \end{array} \right. \] als charakteristische Funktion der Menge \( \{x\in\mathbb Q\,:\,0\le x\le 1\} \) ist nicht Riemannintegrierbar, wie wir aus der Analysis 1 wissen. Der Menge \( \mathbb Q\cap[0,1] \) lässt sich also auf diese Art und Weise kein Inhalt zuordnen, denn das Riemannsche Integral \[ \int\limits_0^1\chi_D(x)\,dx \] existiert nicht.

 


 

 

14.1.2 Um was es geht

 

Unsere Untersuchungen drehen sich also um folgende Fragestellung:

 

\( \circ \) Existiert eine Inhalts- oder Maßfunktion, die möglichst vielen Mengen im \( \mathbb R^n \) einen Inhalt oder ein Maß zuordnet, deren Wirkungsbereich aber größer ist als der des obigen Riemannschen Inhaltsbegriffes?

 

Wir werden in diesem Kapitel einen auf den französischen Mathematiker H.L. Lebesgue (1875-1941) zurückgehenden Maßbegriff kennenlernen, der diese Frage positiv beantwortet. Aufbauend auf diesen Maßbegriff werden wir zweitens in Kapitel 15 eine neue Klasse sogenannter Lebesguemessbarer Funktionen konstruieren, und für diese Funktionen werden wir drittens in Kapitel 16 ein speziell angepasstes Integral definieren und studieren, das Lebesgueintegral.

 

Anschneiden werden wir auch folgendes Maßproblem:

 

\( \circ \) Gibt es eine Inhalts- oder Maßfunktion, deren Wirkungsbereich tatsächlich alle Mengen im \( \mathbb R^n \) umfasst?

 

Wir werden hauptsächlich nur spezielle Lebesguemessbare Mengen untersuchen, die sogenannten Borelmengen. Tatsächlich umfasst der Lebesguesche Maßbegriff ein viel größeres Spektrum an Mengen. Aber er umfasst eben nicht alle Mengen. Es stellt sich sogar heraus, dass das Maßproblem unter allgemeinen Voraussetzungen nicht lösbar ist. Wir verweisen hierzu auf die Literatur.

 


 

 

14.1.3 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Was versteht man unter der charakteristischen Funktion einer Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n? \)
2. Wie lautet die Dirichletsche Sprungfunktion?
3. Ist die Dirichletsche Sprungfunktion Riemannintegrierbar? Geben Sie eine kurze Begründung.
  ➝  Lösung
4. Erläutern Sie in eigenen Worten das Maßproblem.

 

Rechenaufgaben: 3

 


 

14.2 Der Jordaninhalt

 

14.2.1 Jordanmessbare Mengen

 

Es sei \( n\in\mathbb N. \) Wir betrachten einen kompakten, \( n \)-dimensionalen Quader \[ Q=[a_1,b_1]\times[a_2,b_2]\times\ldots\times[a_n,b_n]\subset\mathbb R^n\,, \] worin \( -\infty\lt a_i\le b_i\lt\infty \) für \( i=1,\ldots,n, \) mit dem elementargeometrischen Inhalt \[ |Q|:=(b_1-a_1)\cdot(b_2-a_2)\cdot\ldots\cdot(b_n-a_n). \]

 

Definition: Die beschränkte Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n \) heißt Jordanmessbar, falls

\( \circ \) ihr innerer Jordaninhalt

\[ \lambda_*(\Omega):=\sup\left\{|\Sigma_I|\,:\,\Omega\supseteq\Sigma_I:=\bigcup_{i=1}^nQ_i\right\} \]

\( \circ \) und ihr äußerer Jordaninhalt

\[ \lambda^*(\Omega):=\inf\left\{|\Sigma_A|\,:\,\Omega\subseteq\Sigma_A:=\bigcup_{i=1}^nQ_i\right\} \] gleich sind, in Zeichen \[ \lambda(\Omega):=\lambda_*(\Omega)=\lambda^*(\Omega). \] Dabei heißt \( \lambda(\Omega) \) ihr Jordaninhalt. Supremum und Infimum werden über alle endlichen Vereinigungen von \( n \)-dimensionalen, kompakten Quadern \( Q_i\subset\mathbb R^n \) gebildet, die im ersten Fall \( \Omega \) von innen, im zweiten Fall \( \Omega \) von außen approximieren. Die nichtnegativen reellen Zahlen \( |\Sigma_I| \) und \( |\Sigma_A| \) bedeuten die elementargeometrischen Inhalte der Vereinigungen \( \Sigma_I \) bzw. \( \Sigma_A, \) und zwar ohne mehrfaches Zählen eventueller Überlagerungen der \( Q_i. \)

 

Bemerkung: Wir vereinbaren \[ \lambda_*(\emptyset)=\lambda^*(\emptyset):=0. \]

 

Bemerkung: Es ist auch üblich, anstelle abgeschlossener Quader halboffene Quader der Form \[ [a_1,b_1)\times[a_2,b_2)\times\ldots\times[a_n,b_n) \] zur Approximation beschränkter Mengen \( \Omega\subset\mathbb R^n \) zu verwenden. Vereinigung, Durchschnitt und Differenz halboffener Quader lassen sich als disjunkte Vereinigung halboffener Quader darstellen, was in konkreten Rechnungen umfangreiche Fallunterscheidungen ersparen kann. Auch wir werden hiervon Gebrauch machen.

 


 

 

14.2.2 Eigenschaften des Jordaninhalts

 

Beweise der im folgenden Satz aufgelisteten Eigenschaften des Jordaninhalts verlegen wir in die Übungen. Eventuell bis auf die Eigenschaft (vi), werden Ihnen alle Eigenschaften anschaulich eingängig sein.

 

Satz: Folgende Aussagen sind richtig:

(i) Für alle beschränkten Mengen \( \Omega\subset\mathbb R^n \) gilt

\[ 0\le\lambda_*(\Omega)\le\lambda^*(\Omega)\lt\infty\,. \]

(ii) Jeder beschränkte und offene, halboffene, ... Quader ist Jordanmessbar mit dem Produkt der Seitenlängen als Jordaninhalt.
(iii) Ist die beschränkte Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n \) Jordanmessbar, so gibt es für jedes \( \varepsilon\gt 0 \) eine innere und eine äußere Quaderapproximation \( \Sigma_I \) bzw. \( \Sigma_A \) mit

\[ |\Sigma_A|-|\Sigma_I|\lt\varepsilon. \]

(iv) Eine beschränkte Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n \) mit \( \lambda^*(\Omega)=0 \) ist Jordanmessbar.
(v) Für alle beschränkten Mengen \( \Omega\subseteq\Theta\subset\mathbb R^n \) gelten

\[ \lambda_*(\Omega)\le\lambda_*(\Theta),\quad \lambda^*(\Omega)\le\lambda^*(\Theta). \]

(vi) Es gelten

\[ \lambda_*(\Omega)=\lambda_*(\mathring\Omega),\quad \lambda^*(\Omega)=\lambda^*(\overline\Omega) \]

  mit dem Inneren \( \mathring\Omega \) und dem topologischen Abschluss \( \overline\Omega \) einer beschränkten Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n. \) Ist also \( \Omega\subset\mathbb R^n \) Jordanmessbar, so auch \( \mathring\Omega \) und \( \overline\Omega. \)

 

Beispiel: Ein isolierter Punkt im \( \mathbb R^n \) besitzt nur die leere Menge als echte Teilmenge - sein innerer Jordaninhalt ist gleich Null. Überdeckung mit immer kleiner werdenden Quadern zeigt, dass auch sein äußerer Jordaninhalt verschwindet.

 

\( \longrightarrow \) Ein isolierter Punkt im \( \mathbb R^n \) ist eine Jordansche Nullmenge.

 


 

 

14.2.3 Subadditivität

 

Der Jordaninhalt verhält sich subadditiv im folgenden Sinne:

 

Satz: Es seien \( \Omega_1,\ldots,\Omega_m\subset\mathbb R^n \) endliche viele beschränkte und Jordanmessbare Teilmengen des \( \mathbb R^n. \) Dann ist auch deren Vereinigung Jordanmessbar, und es gilt \[ \lambda(\Omega_1\cup\ldots\cup\Omega_m)\le\sum_{i=1}^m\lambda(\Omega_i). \]

 

Man überlegt sich, dass Gleichheit genau dann richtig ist, wenn alle \( \Omega_i \) bis auf Jordansche Nullmengen voneinander disjunkt sind. In diesem Fall sprechen wir auch von endlicher Additivität.

 

Beispiel: Betrachte die beiden Jordanmessbaren Teilmengen \( \Omega_1:=[0,2] \) und \( \Omega_2:=[1,3]. \) Dann ist \[ \lambda([0,2]\cup[1,3])=\lambda([0,3])=3, \] aber auch \[ \lambda([0,2])+\lambda([1,3])=2+2=4. \] Beachte, dass der Schnitt \( [0,2]\cap[1,3]=[1,2] \) keine Jordansche Nullmenge ist.

 


 

 

14.2.4 Was soll ein Maß leisten?

 

Welche Eigenschaften soll eine Inhaltsfunktion bzw. - allgemeiner gesprochen - eine Maßfunktion besitzen? Hier eine Wunschliste:

 

(W1) Alle Teilmengen des \( \mathbb R^n \) sollen messbar sein - jedenfalls möglichst viele.
(W2) Das Maß einer Teilmenge einer umfassenden Menge soll nicht größer sein als das Maß der umfassenden Menge selbst.
(W3) Ein isolierter Punkt soll verschwindendes Maß besitzen.
(W4) Das Maß eines Quaders soll gleich seinem elementargeometrischen Inhalt sein.
(W5) Translation um einen festen Wert soll den Wert des Maßes nicht ändern.
(W6) Das Maß des Ganzen soll gleich der Summe seiner disjunkten Teile sein.

 

Eine solche Abbildung kann es aber nicht geben!

 

So implizieren (W3) und (W6), dass das Maß einer beliebigen Menge reeller Zahlen, die ja aus „disjunkten Punkten” besteht, verschwindet. Das widerspricht aber (W4).

 

(W6) aber spiegelt die Linearität und Additivität des Maßes wider und soll nicht so einfach gestrichen werden.

 

Wir werden tatsächlich den Wunsch aufgeben, wirklich alle Mengen messen zu können. Das führt uns zu dem Begriff des Lebesgueschen Maßes.

 


 

 

14.2.5 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Was versteht man unter dem inneren Jordaninhalt einer beschränkten Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n? \)
2. Was versteht man unter dem äußeren Jordaninhalt einer beschränkten Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n? \)
3. Wann heißt eine beschränkte Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n \) Jordanmessbar?
4. Ist die leere Menge Jordanmessbar? Welchen Jordaninhalt besitzt sie?
5. Was versteht man unter einer Jordanschen Nullmenge?
6. Begründen Sie mit Hilfe des Satzes aus Paragraph 14.2.2, dass ein isolierter Punkt \( \{x_0\}\subset\mathbb R^n \) eine Jordansche Nullmenge darstellt.
  ➝  Lösung
7. Es sei \( \Omega\subset\mathbb R^2 \) die Menge aller Punkte des abgeschlossenen Quaders \( Q=[0,1]\times[0,1]\subset\mathbb R^2 \) mit rationalen Koordinaten. Zeigen Sie, dass

\[ \lambda_*(\Omega)=0,\quad \lambda^*(\Omega)=1, \]

  und dass damit \( \Omega \) nicht Jordanmessbar ist.
  ➝  Lösung
8. Es sei \( \Omega\subset\mathbb R^2 \) abzählbar endlich oder abzählbar unendlich und beschränkt. Beweisen Sie, dass \( \Omega \) entweder nicht Jordanmessbar ist, oder dass \( \Omega \) eine Jordansche Nullmenge darstellt.
9. Beweisen Sie: Ist \( \Omega\subset\mathbb R^n \) beschränkt mit \( \lambda^*(\Omega)=0, \) so ist \( \Omega \) Jordanmessbar mit \( \lambda(\Omega)=0. \)
  ➝  Lösung
10. Betrachten Sie die reelle Zahlenfolge

\[ \{x_n\}_{n=1,2,\ldots}\subset\mathbb R\quad\mbox{mit}\quad x_n:=\frac{1}{n}\,,\ n=1,2,\ldots \]

  Beweisen Sie, dass dann die Menge

\[ \Omega:=\{x_1,x_2,\ldots\}\subset\mathbb R \]

  eine Jordansche Nullmenge und damit Jordanmessbar ist.
11. Es sei \( \{x_n\}_{n=1,2,\ldots}\subset\mathbb R \) eine konvergente Punktfolge. Beweisen Sie, dass dann

\[ \Omega:=\{x_1,x_2,\ldots\}\subset\mathbb R \]

  eine Jordansche Nullmenge und damit Jordanmessbar ist.
  ➝  Lösung
12. Auf dem kompakten Intervall \( [a,b]\subset\mathbb R \) sei die Lipschitzstetige Funktion \( f\colon[a,b]\to\mathbb R \) gegeben, d.h. mit einer Konstante \( L\ge 0 \) gilt

\[ |f(x)-f(y)|\le L|x-y|\quad\mbox{für alle}\ x,y\in[a,b]. \]

  Sei ferner \( N\subset[a,b] \) eine Jordansche Nullmenge. Beweisen Sie, dass dann auch \( f(N)\subset\mathbb R \) eine Jordansche Nullmenge ist.
  ➝  Lösung
13. Die beschränkte Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n \) sei Jordanmessbar. Beweisen Sie unter Verwendung des Satzes aus Paragraph 14.2.2, dass dann auch ihr Inneres \( \mathring\Omega \) und ihr topologischer Abschluss \( \overline\Omega \) Jordanmessbar sind, und dass gilt

\[ \lambda(\mathring\Omega)=\lambda(\overline\Omega)=\lambda(\Omega). \]

  ➝  Lösung
14. Betrachten Sie die Mengen

\[ \begin{array}{l} \displaystyle C_0:=[0,1],\quad C_1:=\left[0,\frac{1}{3}\right]\cup\left[\frac{2}{3},1\right], \\ \displaystyle C_2:=\left[0,\frac{1}{9}\right]\cup\left[\frac{2}{9},\frac{3}{9}\right]\cup\left[\frac{6}{9},\frac{7}{9}\right]\cup\left[\frac{8}{9},1\right] \quad\mbox{usw.} \end{array} \]

  Wir beginnen also mit \( C_0, \) teilen \( C_0 \) in drei kongruente Teilintervalle, löschen das offene mittlere Drittel hiervon und erhalten die Menge \( C_1 \) usw. Auf diese Weise fortfahrend, erhalten wir die sogenannte Cantorsche Mittel-Drittel-Menge \( C\subset\mathbb R \) vermöge

\[ C:=\bigcap_{k=0}^\infty C_k\,. \]

  Es lässt sich beweisen, dass \( C \) Jordanmessbar ist. Was ist dann ihr Jordaninhalt (Länge) \( \lambda(C)? \)
  \( \to \) Bild der Cantorschen Mittel-Drittel-Menge
  \( \to \) Bleistiftkonstruktion zur Cantorschen Mittel-Drittel-Menge
15. Was versteht man unter der Subadditivität des Jordaninhalts?
16. Verifizieren Sie die Subadditivität des Jordaninhalts anhand eines Beispiels.

 

Rechenaufgaben: 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13

 


 

14.3 Das Lebesguemaß

 

14.3.1 Definition

 

Jede Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) kann überdeckt werden durch eine abzählbare Vereinigung beschränkter, offener \( n \)-dimensionaler Quader \[ Q:=\{(x_1,\ldots,x_n)\in\mathbb R^n\,:\,a_i\lt x_i\lt b_i\ \mbox{für}\ i=1,\ldots,n\}\,, \] worin wir \( -\infty\lt a_i\lt b_i\lt\infty \) annehmen, mit dem elementargeometrischen Inhalt \[ |Q|=(b_1-a_1)\cdot(b_2-a_2)\cdot\ldots\cdot(b_n-a_n). \] Eine solche Überdeckung ist nicht eindeutig. Es gibt hiervon beliebig viele, und von allen diesen Überdeckungen wählen wir die „kleinstmögliche” aus: \[ \ell_n^*(\Omega):=\inf\left\{\sum_{k\ge 1}|Q_k|\,:\,\Omega\subseteq\bigcup_{k\ge 1}Q_k,\ Q_k\subset\mathbb R^n\ \mbox{beschränkter, offener Quader}\right\}. \] In dieser Setzung werden Summation und Vereinigung über endlich viele bzw. abzählbar unendliche viele Summanden bzw. Quader gebildet, was wir symbolisch durch die Schreibweise: \( k\ge 1 \) andeuten. Das hochgesetzte Symbol \( * \) soll ferner den Zusammenhang zum äußeren Jordaninhalt andeuten.

 

Zum Vergleich: Zur Definition des Jordaninhalts haben wir nur endlich viele (abgeschlossene) Quader zugelassen - aus diesem Grund verwendet man in diesem Fall auch die Bezeichnung Inhalt in Abgrenzung zum allgemeineren Begriff eines Maßes.

 

Definition: Es heißt \[ \ell_n^*(\Omega)\in[0,\infty] \] das \( n \)-dimensionale, äußere Lebesguesche Maß der Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n. \)

 

Bemerkung: Wir sprechen von einem äußeren Maß, da wir nur Approximationen von außen zulassen (das ist keine richtige Definition). Zur Definition eines zugehörigen Messbarkeitsbegriffs benötigen wir daher eine gesonderte Bedingung, da wir nicht auf ein inneres Maß zurückzugreifen wollen.

 

Bemerkung: Wie auch beim Jordaninhalt, so ist es auch hier oft üblich, halboffene Quader zur Überdeckung von Mengen \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) zu benutzen anstelle offener Quader. Das Maß selbst bleibt dabei unverändert.

 


 

 

14.3.2 Erste Eigenschaften

 

Die ersten drei Behauptungen des folgenden Satzes formulieren wir mit möglichen Beweisideen. Einen Beweis der vierten Behauptung verschieben wir auf den anschließenden Paragraphen, wo wir eine allgemeinere Aussage diskutieren wollen. Die Translationsinvarianz aus der fünften Behauptung belassen wir als Übung.

 

Satz: Das äußere Lebesguemaß besitzt die folgenden Eigenschaften:

(i) Für jede Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) existiert \( \ell_n^*(\Omega)\in[0,\infty] \) in \( \overline{\mathbb R}. \)
(ii) Eine Überdeckung einer Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) ist gleichzeitig eine Überdeckung ihrer Teilmengen, d.h. das äußere Lebesguemaß ist monoton im Sinne von

\[ \ell_n^*(\Theta)\le\ell_n^*(\Omega),\quad\mbox{falls}\ \Theta\subseteq\Omega. \]

(iii) Die leere Menge \( \emptyset \) ist Teilmenge jeder Menge. Da außerdem

\[ x\in(x_1-\varepsilon,x_1+\varepsilon)\times\ldots\times(x_n-\varepsilon,x_n+\varepsilon) \]

  für jeden isolierten Punkt \( x=(x_1,\ldots,x_n)\in\mathbb R^n \) gilt, schließen wir

\[ \ell_n^*(\{x\})=0 \]

  und insbesondere nach der erwähnten Monotonieeigenschaft

\[ \ell_n^*(\emptyset)=0. \]

(iv) Ist \( Q\subset\mathbb R^n \) ein beschränkter offener (halboffener usw.) Quader, so gilt

\[ \ell_n^*(Q)=|Q| \]

  mit dem elementargeometrischen Inhalt \( |Q|. \)
(v) Das äußere Lebesguemaß ist translationsinvariant.

 

Bemerkung: Aussage (ii) des Satzes spiegelt unseren Wunsch (W2) wider, Aussage (iii) unseren Wunsch (W3). Mit (iv) werden wir (W4) gerecht, und (v) ist die als (W5) gewünschte Eigenschaft einer Maßfunktion.

 


 

 

14.3.3 Jordaninhalt und äußeres Lebesguemaß

 

Die vierte Behauptung des Satzes aus dem vorigen Paragraphen beweisen wir mit Hilfe der folgenden allgemeineren Einschließungseigenschaft:

 

Satz: Für jede beschränkte Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n \) gilt \[ \lambda_*(\Omega)\le\ell_n^*(\Omega)\le\lambda^*(\Omega). \]

 

Hieraus folgt insbesondere \( \ell_n^*(Q)=|Q| \) für beschränkte, offene (halboffene usw.) Jordanmessbare Quader \( Q\in\mathbb R^n, \) da wegen deren Jordanmessbarkeit gilt \[ |Q|=\lambda(Q)=\lambda_*(Q)=\lambda^*(Q). \]

 

Beweis

 

Wir gehen in zwei Beweisschritten vor.

1. Wir zeigen zunächst die Teilaussage \( \ell_n^*(\Omega)\le\lambda^*(\Omega). \) Sei dazu vermöge

\[ \Omega\subseteq\bigcup_{i=1}^mK_i\,,\quad K_i\subset\mathbb R^n\ \mbox{kompakter Quader nach Paragraph 14.2.1,} \]

  eine Überdeckung von \( \Omega \) gegeben. Zu vorgelegtem \( \varepsilon\gt 0 \) ersetzen wir jedes \( K_i \) durch einen offenen Quader \( \widetilde Q_i \) mit

\[ K_i\subset\widetilde Q_i \quad\mbox{und}\quad |\widetilde Q_i|\le|K_i|+\frac{\varepsilon}{2^i} \quad\mbox{für}\ i=1,\ldots,m. \]

  Dann erhalten wir vermittels

\[ \Omega\subset\bigcup_{i=1}^m\widetilde Q_i \]

  eine endliche, offene Überdeckung von \( \Omega, \) für welche gilt (o.b.Q. bedeutet: offener und beschränkter Quader)

\[ \begin{array}{lll} \ell_n^*(\Omega)\negthickspace & = & \negthickspace\displaystyle \inf\left\{\sum_{k\ge 1}|Q_k|\,:\,\Omega\subset\bigcup_{k\ge 1}Q_k,\ Q_k\subset\mathbb R^n\ o.b.Q.\right\} \\ & \le & \negthickspace\displaystyle \sum_{i=1}^m|\widetilde Q_i| \,\le\,\sum_{i=1}^m\left(|K_i|+\frac{\varepsilon}{2^i}\right) \\ & = & \negthickspace\displaystyle \sum_{i=1}^m|K_i|+\varepsilon, \end{array} \]

  da es sich bei der Überdeckung vermittels der \( \widetilde Q_i \) nicht notwendig um die „kleinste” Überdeckung zur Auswertung von \( \ell_n^*(\Omega) \) handeln muss. Da nun \( \{K_i\}_{i=1,\ldots,m} \) und \( \varepsilon\gt 0 \) beliebig waren, folgt die erste Teilaussage.
2. Wir zeigen nun die Teilaussage \( \lambda_*(\Omega)\le\ell_n^*(\Omega). \)
 
(i) Sei \( \Omega\subset\mathbb R^n \) zunächst Vereinigung endlich vieler kompakter Quader. Zu \( \varepsilon\gt 0 \) betrachten wir mit

\[ \Omega\subset\bigcup_{i\ge 1}Q_i \quad\mbox{mit}\quad \sum_{i\ge 1}|Q_i|\lt\ell_n^*(\Omega)+\varepsilon,\ \ell_n^*(\Omega)\lt\infty\,, \]

 
  eine abzählbare, offene Überdeckung von \( \Omega. \) Da \( \Omega\subset\mathbb R^n \) kompakt ist, existiert von dieser Überdeckung nach Definition der Kompaktheit eine endliche Teilüberdeckung, etwa

\[ \Omega\subset\bigcup_{i=1}^pQ_i\quad\mbox{mit einem geeigneten}\ p\in\mathbb N. \]

 
  Unter Beachtung der Sätze aus den Paragraphen 14.2.2 und 14.2.3 ermitteln wir

\[ \begin{array}{lll} \lambda_*(\Omega)\negthickspace & = & \negthickspace\displaystyle \lambda(\Omega) \,\le\,\lambda(\Omega_1\cup\ldots\cup\Omega_p) \\ & \le & \negthickspace\displaystyle \sum_{i=1}^p\lambda(\Omega_i) =\sum_{i=1}^p|\Omega_i| \\ & \le & \negthickspace\displaystyle \sum_{i\ge 1}|\Omega_i| \,\le\,\ell_n^*(\Omega)+\varepsilon. \end{array} \]

 
  Da \( \varepsilon\gt 0 \) beliebig gewählt war, folgt die Zwischenbehauptung.
(ii) Sei nun \( \Omega\subset\mathbb R^n \) beliebig, aber beschränkt. Ihr innerer Jordaninhalt ergibt sich über endliche Vereinigungen \( \Sigma_I\subseteq\Omega \) kompakter Quader. Nach dem bisher Bewiesenen gilt die Behauptung des Satzes bereits für ein solches \( \Sigma, \) d.h.

\[ \lambda_*(\Sigma_I)\le\ell_n^*(\Sigma_I)\le\lambda^*(\Sigma_I), \]

 
  und unter Verwendung der Monotonie von \( \ell_n^* \) schließen wir

\[ \lambda_*(\Sigma_I) =\lambda(\Sigma_I) \le\ell_n^*(\Sigma_I) \ell_n^*(\Omega). \]

 
  Auf der linken Seite gehen wir nun über zum Supremum über alle zulässigen \( \Sigma_I\subseteq\Omega, \) während die vorige Ungleichungskette erhalten bleibt. Es folgt die zweite Teilaussage.

 

Damit ist der Satz vollständig bewiesen.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

14.3.4 Subadditivität

 

Wir nähern uns nun unserem Wunsch (W6).

 

Satz: Das äußere Lebesguemaß ist subadditiv, d.h. ist \( \Omega_1,\Omega_2,\ldots \) eine abzählbare Folge von Menge im \( \mathbb R^n, \) so gilt \[ \ell_n^*\left(\bigcup_{k\ge 1}\Omega_k\right)\le\sum_{k\ge 1}\ell_n^*(\Omega_k). \]

 

Beweis

 

Betrachte Mengen \( \Omega_k\subset\mathbb R^n \) mit \( \ell_n^*(\Omega_k)\lt\infty \) für alle \( k=1,2,\ldots \) und (absolut) konvergenter Reihe auf der rechten Seite der behaupteten Ungleichung, denn sonst ist nichts zu zeigen. Auf Grund der Minimaleigenschaft des äußeren Lebesguemaßes finden wir zu \( \varepsilon\ge 0 \) eine offene Überdeckung der \( \Omega_k \) mit offenen Quadern \( Q_{k_\ell}\subset\mathbb R^n, \) d.h. \[ \Omega_k\subset\bigcup_{\ell\ge 1}Q_{k_\ell}\,,\quad k=1,2,\ldots, \] so dass gilt \[ \ell_n^*(\Omega_k) \le\sum_{\ell\ge 1}|Q_{k_\ell}| \le\ell_n^*(\Omega_k)+\frac{\varepsilon}{2^k}\,,\quad k=1,2,\ldots \] Jetzt betrachten wir wieder die gesamte Überdeckung über alle \( Q_k \) und erhalten nach dem Riemannschen Umordnungssatz \[ \begin{array}{lll} \displaystyle \ell_n^*\left(\bigcup_{k\ge 1}\Omega_k\right)\negthickspace & \le & \negthickspace\displaystyle \sum_{k,\ell\ge 1}|Q_{k_\ell}| =\sum_{k\ge 1}\sum_{\ell\ge 1}|Q_{k_\ell}| \\ & \le & \negthickspace\displaystyle \sum_{k\ge 1}\ell_n^*(\Omega_k)+\sum_{k\ge 1}\frac{\varepsilon}{2^k} \le\sum_{k\ge 1}\ell_n^*(\Omega_k)+\varepsilon. \end{array} \] Mit \( \varepsilon\to 0 \) folgt die Behauptung.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

14.3.5 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Wie ist das äußere Lebesguemaß \( \ell_n^* \) definiert?
2. Es seien \( \Omega,\Theta\subseteq\mathbb R^n \) zwei beliebige Mengen mit \( \Omega\subseteq\Theta. \) Beweisen Sie, dass das äußere Lebesguemaß monoton ist, d.h. es gilt

\[ \ell_n^*(\Omega)\le\ell_n^*(\Theta). \]

3. Wie hängen äußeres Lebesguemaß und innerer bzw. äußerer Jordaninhalt einer beschränkten Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n \) zusammen?
4. Die beschränkte Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n \) sei Jordanmessbar mit Jordaninhalt \( \lambda(\Omega). \) Bestimmen Sie ihr äußeres Lebesguemaß
5. Was versteht man unter der Subadditivität des äußeren Lebesguemaßes?
6. Verifizieren Sie die Subadditivität des äußeren Lebesguemaßes anhand eines Beispiels.

 

Rechenaufgaben: 2, 4, 6

 


 

14.4 Lebesguemessbare Mengen

 

14.4.1 Definition Lebesguemessbarer Mengen

 

Diejenigen Mengen zu charakterisieren, für welche sich das äußere Lebesguemaß abzählbar additiv verhält, ist im Jahre 1914 dem griechischen Mathematiker C. Caratheodory gelungen.

 

Die Idee ist, das jede Menge \( C\subseteq\mathbb R^n \) bez. einer Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) in die Mengendurchschnitte \( C\cap\Omega \) und \( C\cap\Omega^c \) zerlegt werden kann, genauer \[ C=(C\cap\Omega)\cup(C\cap\Omega^c)=(C\cap\Omega)\cup(C\setminus\Omega), \] was Caratheodory zum tragenden Prinzip der gesamten Theorie machte.

 

Definition: Eine Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) heißt Lebesguemessbar genau dann, wenn \[ \ell_n^*(C) =\ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\cap\Omega^c) =\ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\setminus\Omega) \] für jede Menge \( C\subseteq\mathbb R^n \) richtig ist.

 

Die Subadditivität des äußeren Lebesguemaßes liefert \[ \ell_n^*(C)\le\ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\cap\Omega^c). \] Zum Nachweis des Caratheodoryschen Kriteriums genügt es also, wenn wir uns überzeugen von der inversen Ungleichung \[ \ell_n^*(C)\ge\ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\cap\Omega^c). \]

 


 

 

14.4.2 Alternative Definition der Lebesguemessbarkeit

 

In seiner Monographie Hausdorff measures, Seite 3, verwendet C.A. Rogers eine alternative Definition von Messbarkeit, die wir an dieser Stelle als Satz formulieren wollen, und die das Caratheodorykriterium aus der Definition der Lebesguemessbarkeit anschaulich macht.

 

Satz: Die Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) ist genau dann Lebesguemessbar im Sinne von Caratheodory, wenn gilt \[ \ell_n^*(A\cup B)=\ell_n^*(A)+\ell_n^*(B) \] für alle Mengen \( A,B\subseteq\mathbb R^n \) mit der Eigenschaft \[ A\subseteq\Omega,\quad B\subseteq\Omega^c\,. \]

 

Man sagt, zwei Mengen \( A,B\subseteq\mathbb R^n \) mit ebendieser Eigenschaft werden durch \( \Omega \) getrennt.

 

\( \longrightarrow \) Eine Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) ist also genau dann Lebesguemessbar im Sinne von Caratheodory, wenn das äußere Lebesguemaß \( \ell_n^* \) additiv ist auf den Mengen, die durch \( \Omega \) getrennt werden.

 

 

Beweis des Satzes

 

1. Für alle \( C\subseteq\mathbb R^n \) gelte

\[ \ell_n^*(C)=\ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\cap\Omega^c). \]

  Wähle ein \( A\subseteq\Omega \) und ein \( B\subseteq\Omega^c \) beliebig. Mit \( C:=A\cup B \) gelten dann

\[ A=C\cap\Omega,\quad B=C\cap\Omega^c\,, \]

  und nach Voraussetzung folgt

\[ \ell_n^*(A\cup B)=\ell_n^*(A)+\ell_n^*(B). \]

2. Nun gelte für alle \( A\subset\Omega \) und alle \( B\subseteq\Omega^c \)

\[ \ell_n^*(A\cup B)=\ell_n^*(A)+\ell_n^*(B). \]

  Wähle ein \( C\subseteq\mathbb R^n \) beliebig und setze

\[ \begin{array}{l} A:=C\cap\Omega\subseteq\Omega,\quad B:=C\cap\Omega^c\subseteq\Omega^c\,, \\ A\cup B=(C\cap\Omega)\cup(C\cap\Omega^c)=C. \end{array} \]

  Nach Voraussetzung folgt daher

\[ \ell_n^*(C)=\ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\cap\Omega^c). \] Damit ist der Satz bewiesen.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

14.4.3 Erste Beispiele Lebesguemessbarer Mengen

 

Satz: Folgende Mengen sind Lebesguemessbar:

\( \circ \) die leere Menge \( \emptyset, \)
\( \circ \) jede Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n \) mit \( \ell_n^*(\Omega)=0, \)
\( \circ \) die Menge \( \mathbb R^n. \)

Ist ferner die Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) Lebesguemessbar, so auch ihr Komplement \( \Omega^c. \)

 

Eine Menge \( \Omega\subset\mathbb R^n \) mit der Eigenschaft \( \ell_n^*(\Omega)=0 \) heißt eine Lebesguesche Nullmenge.

 

Beweis

 

Wir berechnen unter Beachtung der Subadditivität und wegen \( \ell_n^*(\emptyset)=0 \) und \( \emptyset^c=\mathbb R^n \) \[ \ell_n^*(C) \le\ell_n^*(C\cap\emptyset)+\ell_n^*(C\cap\emptyset^c) =\ell_n^*(\emptyset)+\ell_n^*(C) =\ell_n^*(C). \] Also gilt hierin überall Gleichheit, und es folgt die Lebesguemessbarkeit der leeren Menge \( \emptyset \) nach dem Caratheodorykriterium aus der Definition aus Paragraph 14.3.4. Entsprechend ist \[ \ell_n^*(C) \le\ell_n^*(C\cap\mathbb R)+\ell_n^*(C\cap(\mathbb R^n)^c) =\ell_n^*(C)+\ell_n^*(\emptyset) =\ell_n^*(C), \] was die Lebesguemessbarkeit von \( \mathbb R^n \) bedeutet. Die Lebesguemessbarkeit von \( \Omega^c \) unter Voraussetzung der Lebesguemessbarkeit von \( \Omega \) folgt sofort aus der Definition: \[ \ell_n^*(C) =\ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\cap\Omega^c) =\ell_n^*(C\cap\Omega^c)+\ell_n^*(C\cap\Omega). \] Die Lebesguemessbarkeit Lebesguescher Nullmengen belassen wir als Übung.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

14.4.4 Jordanmessbarkeit und Lebesguemessbarkeit

 

Mit unseren bisher erlernten Methoden können wir nachweisen, dass Jordanmessbare Mengen auch Lebesguemessbar sind. Davon aber, dass die Umkehrung dieser Aussage nicht gilt, zeugen raffiniert konstruierte Beispiele: Es gibt tatsächlich viel mehr Lebesguemessbare Mengen, als es Jordanmessbare Mengen gibt.

 

Satz: Es sei \( \Omega\subset\mathbb R^n \) beschränkt und Jordanmessbar. Dann ist \( \Omega \) auch Lebesguemessbar, und es gilt \[ \ell_n^*(\Omega)=\lambda(\Omega). \]

 

Zum Beweis benötigen wir den folgenden

 

Hilfssatz: Sind \( \Omega,\Theta\subset\mathbb R^n \) beschränkt und Jordanmessbar, so auch ihr Durchschnitt \( \Omega\cap\Theta. \)

 

Beweisskizze des Hilfssatzes

 

An dieser Stelle ist es vorteilhaft, zur Approximation der Mengen \( \Omega \) und \( \Theta \) halboffene Quader zu verwenden nach der zweiten Bemerkung in Paragraph 14.2.1.

1. Zu \( \varepsilon\gt 0 \) vorgegeben, existieren zunächst nach dem Satz aus Paragraph 14.2.2 eine innere und eine äußere Quaderapproximationen \( \Sigma_{\Omega,I} \) und \( \Sigma_{\Omega,A} \) von \( \Omega \) bzw. \( \Sigma_{\Theta,I} \) und \( \Sigma_{\Theta,A} \) von \( \Theta, \) so dass gelten

\[ |\Sigma_{\Omega,A}|-|\Sigma_{\Omega,I}|\lt\varepsilon,\quad |\Sigma_{\Theta,A}|-|\Sigma_{\Theta,I}|\lt\varepsilon. \]

  Die von \( \Sigma_{\Omega,I} \) und \( \Sigma_{\Theta,I} \) disjunkten Differenzmengen \( \Sigma_{\Omega,A}\setminus\Sigma_{\Omega,I} \) und \( \Sigma_{\Theta,A}\setminus\Sigma_{\Theta,I} \) sind also endliche Vereinigung halboffener Quader Jordanmessbar und genügen daher nach Paragraph 14.2.3

\[ \begin{array}{l} \lambda(\Sigma_{\Omega,I})+\lambda(\Sigma_{\Omega,A}\setminus\Sigma_{\Omega,I})=\lambda(\Sigma_{\Omega,A}), \\ \lambda(\Sigma_{\Theta,I})+\lambda(\Sigma_{\Theta,A}\setminus\Sigma_{\Theta,I})=\lambda(\Sigma_{\Theta,A}) \end{array} \]

  bzw. nach Umstellen

\[ \lambda(\Sigma_{\Omega,A}\setminus\Sigma_{\Omega,I})\lt\varepsilon,\quad \lambda(\Sigma_{\Omega,A}\setminus\Sigma_{\Omega,I})\lt\varepsilon. \]

2. Weiter macht man sich klar

\[ \Sigma_{\Omega,I}\cap\Sigma_{\Theta,I}\subseteq\Omega\cap\Theta\subseteq\Sigma_{\Omega,A}\cap\Sigma_{\Theta,A}\,. \]

  Jetzt ermitteln wir mit Hilfe der de Morganschen Regel aus Analysis 1, Paragraph 1.2.3

\[ \begin{array}{l} (\Sigma_{\Omega,A}\cap\Sigma_{\Theta,A})\setminus(\Sigma_{\Omega,I}\setminus\Sigma_{\Theta,I}) \\ \qquad\displaystyle =\,(\Sigma_{\Omega,A}\cap\Sigma_{\Theta,A}\setminus\Sigma_{\Omega,I})\cup(\Sigma_{\Omega,A}\cap\Sigma_{\Theta,A}\setminus\Sigma_{\Theta,I}) \\ \qquad\displaystyle \subseteq\,(\Sigma_{\Omega,A}\setminus\Sigma_{\Omega,I})\cup(\Sigma_{\Theta,A}\setminus\Sigma_{\Theta,I}). \end{array} \]

  Die Subadditivität des Jordaninhalts liefert daher

\[ \begin{array}{l} \lambda((\Sigma_{\Omega,A}\cap\Sigma_{\Theta,A})\setminus(\Sigma_{\Omega,I}\cap\Sigma_{\Theta,I})) \\ \qquad\displaystyle \le\,\lambda(\Sigma_{\Omega,A}\cap\Sigma_{\Omega,I})+\lambda(\Sigma_{\Theta,A}\setminus\Sigma_{\Theta,I}) \\ \qquad\displaystyle \lt\,\varepsilon+\varepsilon \,=\,2\varepsilon. \end{array}\]

  Hieraus folgt, wenn wir unsere vorigen Überlegungen umkehren,

\[ \lambda(\Sigma_{\Omega,A}\cap\Sigma_{\Theta,A})-\lambda(\Sigma_{\Omega,I}\setminus\Sigma_{\Theta,I})\lt 2\varepsilon. \] Eine Umkehrung der Aussage (ii) des Satzes aus Paragraph 14.2.2 (die wir nicht diskutiert haben) zeigt die Behauptung.\( \qquad\Box \)

 

 

Wir kommen nun zum

 

 

Beweis des Satzes

 

Seien \( \Omega\subset\mathbb R^n \) Jordanmessbar und \( C\in\mathbb R^n \) mit \( \ell_n^*(C)\lt\infty \) beliebig (warum dürfen wir diese Endlichkeitsbedingung voraussetzen?). Zu \( \varepsilon\gt 0 \) existieren dann abzählbar viele offene und beschränkte Quader \( Q_i\subset\mathbb R^n \) mit \[ C\subseteq\bigcup_{i\ge 1}Q_i\,,\quad \sum_{i\ge 1}|Q_i|\le\ell_n^*(C)+\varepsilon. \] Mit \( \Omega \) und den offenen Quadern \( Q_i \) sind nach vorigem Hilfssatz auch \( Q_i\cap Q \) und \( \Omega_i\cap\Omega^c=Q_i\setminus\Omega \) Jordanmessbar, also haben wir wie in den Paragraphen 14.3.2 und 14.3.3 \[ \ell_n^*(Q_i\cap\Omega)=\lambda(Q_i\cap\Omega),\quad \ell_n^*(Q_i\cap\Omega^c)=\lambda(Q_i\cap\Omega^c). \] Ferner gelten \[ C\cap\Omega\subseteq\bigcup_{i\ge 1}(Q_i\cap\Omega),\quad C\cap\Omega^c\subseteq\bigcup_{i\ge 1}(Q_i\cap\Omega^c). \] Wir benutzen nun (vgl. unsere Bemerkung zur Subadditivität des Jordaninhalts) \[ \lambda(Q_i)=\lambda(Q_i\cap\Omega)+\lambda(Q_i\cap\Omega^c),\quad i=1,2,\ldots, \] und berechnen mit der Monotonie und der Subadditivität von \( \ell_n^* \) \[ \begin{array}{l} \ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\cap\Omega^c) \\ \qquad\displaystyle \le\,\ell_n^*\left(\bigcup_{i\ge 1}Q_i\cap\Omega\right)+\ell_n^*\left(\bigcup_{i\ge 1}Q_i\cap\Omega^c\right) \\ \qquad\displaystyle \le\,\sum_{i\ge 1}\ell_n^*(Q_i\cap\Omega)+\sum_{i\ge 1}\ell_n^*(Q_i\cap\Omega^c) \\ \qquad\displaystyle =\,\sum_{i\ge 1}\lambda(Q_i\cap\Omega)+\sum_{i\ge 1}\lambda(Q_i\cap\Omega^c) \\ \qquad\displaystyle =\,\sum_{i\ge 1}\lambda(Q_i)\,=\,\sum_{i\ge 1}|Q_i|\,\le\,\ell_n^*(C)+\varepsilon. \end{array} \] Mit \( \varepsilon\to 0 \) folgt die Behauptung. Die verbleibende Behauptung \( \lambda(\Omega)=\ell_n^*(\Omega) \) folgt aus dem Satz aus Paragraph 14.3.3.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

14.4.5 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Wann heißt eine Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) nach Caratheodory Lebesguemessbar?
2. Welche alternative Definition der Lebesguemessbarkeit von Mengen kennen Sie?
3. Es seien \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) eine beliebige Menge und \( \Theta\subset\mathbb R^n \) eine Lebesguesche Nullmenge mit der charakteristischen Eigenschaft \( \ell_n^*(\Theta)=0. \) Beweisen Sie, dass dann

\[ \ell_n^*(\Omega)=\ell_n^*(\Omega\cup\Theta). \]

4. Es sei \( N\subset\mathbb R^n \) eine Lebesguesche Nullmenge. Beweisen Sie, dass \( N \) dann Lebesguemessbar im Caratheodoryschen Sinn ist.
5. Es sei \( \Omega\subset\mathbb R^n \) beschränkt und Jordanmessbar mit Jordaninhalt \( \lambda(\Omega). \) Was können Sie dann über die Lebesguemessbarkeit von \( \Omega \) aussagen? Wie berechnet sich das äußere Lebesguemaß \( \ell_n^*(\Omega)? \)
6. Beweisen Sie, dass folgende einpunktige Menge

\[ \Omega:=\{x_0\}\quad\mbox{mit}\ x_0\in\mathbb R^n \]

  Lebesguemessbar ist, und bestimmen Sie ihr äußeres Lebesguemaß. Benutzen Sie dabei nur die Definition (Überdeckung durch offene Quader).
7. Beweisen Sie, dass folgende abzählbare Menge

\[ \Omega:=\{x_1,x_2,x_3,\ldots\}\subset\mathbb R^n \]

  Lebesguemessbar ist, und bestimmen Sie ihr äußeres Lebesguemaß. Wenden Sie Ihr Resultat auf die Menge \( \Omega=[0,1]\cap\mathbb Q \) an. Benutzen Sie dabei nur die Definition (Überdeckung durch offene Quader).

 

Rechenaufgaben: 3, 4, 6, 7

 


 

14.5 Sigma-Algebren

 

14.5.1 Der Begriff der Sigma-Algebra

 

Aus den vorigen Paragraphen kennen wir bereits einfache Beispiele Lebesguemessbarer Mengen. Die Frage, welche Menge denn überhaupt Lebesguemessbar sind, ist nicht so unmittelbar zu beantworten. Vielmehr werden wir sehen, dass die Lebesguemessbaren Mengen einer gewissen algebraischen Struktur unterliegen. Dazu zunächst die

 

Definition: Ein System \( {\mathcal A} \) von Teilmengen \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) heißt eine \( \sigma \)-Algebra, falls erfüllt sind:

(i) Es ist \( \emptyset\in{\mathcal A}. \)
(ii) Ist \( \Omega\in{\mathcal A}, \) so gilt auch \( \Omega^c\in{\mathcal A}. \)
(iii) Sind abzählbar endlich oder unendlich viele \( \Omega_1,\Omega_2,\ldots\in{\mathcal A}, \) so gilt auch

\[ \bigcup_{i\ge 1}\Omega_i\in{\mathcal A}. \]

 

Beispiele:

\( \circ \) Es ist \( \{\emptyset,\mathbb R^n\} \) eine \( \sigma \)-Algebra, die sogenannte kleinste \( \sigma \)-Algebra zur Menge \( \mathbb R^n. \)
\( \circ \) Es ist die Potenzmenge \( {\mathcal P}(\mathbb R^n) \) eine \( \sigma \)-Algebra, die sogenannte größte \( \sigma \)-Algebra zur Menge \( \mathbb R^n. \)

 


 

 

14.5.2 Die Sigma-Algebra der Lebesguemessbaren Mengen

 

Von besonderer Bedeutung ist nun der folgende, die Lebesguemessbaren Mengen charakterisierende Satz, der uns unseren Wünschen (W1) und (W2) so nah als nur möglich bringt.

 

Satz: Das System aller Mengen \( \Omega\subseteq\mathbb R^n, \) welche Lebesguemessbar im Sinne von Caratheodory sind, bildet eine \( \sigma \)-Algebra. Auf dieser \( \sigma \)-Algebra ist das äußere Lebesguemass additiv.

 

Ein Beweis dieses Satzes beinhaltet verschiedene, bereits für sich interessante Aussagen, die wir hier nur auflisten wollen:

1. Ist \( \Omega \) Lebesguemessbar, so auch \( \Omega^c. \)
2. Sind \( \Omega_1 \) und \( \Omega_2 \) Lebesguemessbar, so auch \( \Omega_1\cup\Omega_2. \)
3. Sind \( \Omega_1 \) und \( \Omega_2 \) Lebesguemessbar, so auch \( \Omega_1\cap\Omega_2. \)
4. Sind \( \Omega_1 \) und \( \Omega_2 \) Lebesguemessbar, so auch \( \Omega_1\setminus\Omega_2. \)
5. Endliche Vereinigungen und endliche Durchschnitte Lebesguemessbarer Mengen sind Lebesguemessbar.
6. Die Vereinigung abzählbar viele Lebesguemessbarer Mengen ist Lebesguemessbar.  
7. Es gilt Additivität des äußeren Lebesguemaßes innerhalb des Systems der Lebesguemssbaren Mengen.

 

Die erste Aussage kennen wir bereits aus Paragraph 14.4.3.

 

Beweis der Aussage 2, 3 und 4

 

(i) Es seien \( \Omega_1 \) und \( \Omega_2 \) Lebesguemessbar. Zunächst macht man sich klar

\[ \begin{array}{l} C\cap(\Omega_1\cup\Omega_2)=(C\cap\Omega_1)\cup(C\cap\Omega_1^c\cap\Omega_2), \\ C\cap(\Omega_1^c\cap\Omega_2^c)=C\cap(\Omega_1\cup\Omega_2)^c\,. \end{array} \]

  Die Subadditivität von \( \ell_n^* \) liefert (in der zweiten Zeile benutzen wir die Lebesguemessbarkeit von \( \Omega_2, \) in der vierten Zeile die vorigen Mengenidentitäten)

\[ \begin{array}{lll} \ell_n^*(C)\negthickspace & = & \negthickspace\displaystyle \ell_n^*(C\cap\Omega_1)+\ell_n^*(C\cap\Omega_1^c) \\ & = & \negthickspace\displaystyle \ell_n^*(C\cap\Omega_1)+\ell_n^*((C\cap\Omega_1^c)\cap\Omega_2)+\ell_n^*((C\cap\Omega_1^c)\cap\Omega_2^c) \\ & \ge & \negthickspace\displaystyle \ell_n^*((C\cap\Omega_1)\cup(C\cap\Omega_1^c)\cap\Omega_2)+\ell_n^*((C\cap\Omega_1^c)\cap\Omega_2^c) \\ & = & \negthickspace\displaystyle \ell_n^*(C\cap(\Omega_1\cup\Omega_2))+\ell_n^*(C\cap(\Omega_1\cup\Omega_2)^c) \\ & \ge & \negthickspace\displaystyle \ell_n^*(C). \end{array} \]

  Das zeigt die Lebesguemessbarkeit von \( \Omega_1\cup\Omega_2. \)
(ii) Da mit \( \Omega_1 \) und \( \Omega_2 \) auch \( \Omega_1^c \) und \( \Omega_2^c \) Lebesguemessbar sind, schließen wir mit den ersten beiden Aussagen auf Grund von

\[ \Omega_1\cap\Omega_2=(\Omega_1^c\cup\Omega_2^c)^c \]

  auf die Lebesguemessbarkeit von \( \Omega_1\cap\Omega_2. \)
(iii) Sind \( \Omega_1 \) und \( \Omega_2 \) Lebesguemessbar, so auch \( \Omega_2^c \) nach der ersten Aussage und damit auch die Differenz

\[ \Omega_1\setminus\Omega_2=\Omega_1\cap\Omega_2^c\,. \]

(iv) Auf diese Weise fortfahrend, folgern wir, dass auch endliche Vereinigungen und Durchschnitte Lebesguemessbarer Mengen wieder Lebesguemessbar sind.

 

Damit sind diese Aussagen bewiesen.\( \qquad\Box \)

 

 

Bemerkung: Nach einem Beweis, dass auch die Vereinigung abzählbar vieler Lebesguemessbarer Mengen wieder Lebesguemessbar ist, folgt auch die Lebesguemessbarkeit ihres Durchschnitts, denn es gilt \[ \mathbb R^n\setminus\bigcap_{k\ge 1}\Omega_k=\bigcup_{k\ge 1}(\mathbb R^n\setminus\Omega_k). \]

 


 

 

14.5.3 Lebesguemessbarkeit offener und abgeschlossener Mengen

 

Dem Satz aus dem vorigen Kapitel stellen wir jetzt die folgende Aussage zur Seite:

 

Satz: Lebesguemessbar im Sinne von Caratheodory sind

\( \circ \) alle offenen und
\( \circ \) alle abgeschlossenen Teilmengen \( \Omega\subseteq\mathbb R^n. \)

 

Beweisskizze

 

Zwei Aussagen sind zu zeigen.

1. Es sei \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) eine offene Menge, und es sei \( x\in\Omega \) beliebig gewählt. Es existiert dann ein \( \varepsilon\gt 0, \) so dass

\[ (x_1-\varepsilon,x_1+\varepsilon)\times\ldots\times(x_n-\varepsilon,x_n+\varepsilon)\subset\Omega. \]

  Wir wählen nun \( \mathbb Q \)-wertige Vektoren \( a,b\in\mathbb Q^n \) mit der Eigenschaft

\[ x_i-\varepsilon\lt a_i\lt x_i\lt b_i\lt x_i+\varepsilon\quad\mbox{für alle}\ i=1,\ldots,n. \]

  Dann gilt

\[ x\in[a_1,b_1]\times\ldots\times[a_n,b_n]\subset\Omega, \]

  d.h. \( x\in\Omega \) ist enthalten in dem entsprechenden abgeschlossenen Quader. Insbesondere lässt sich \( \Omega \) selbst als abzählbare Vereinigung solcher Quader

\[ \left\{\,\prod_{i=1}^n(a_i,b_i)\subset\Omega\,:\,a_i,b_i\in\mathbb Q\right\} \]

  darstellen. Jeder dieser Quader ist aber Jordanmessbar und damit Lebesguemessbar, ebenso die abzählbare Vereinigung auf Grund der \( \sigma \)-Eigenschaft aus Paragraph 14.5.2. Also ist auch \( \Omega \) Lebesguemessbar.
2. Als Komplemente von offenen und damit von Lebesguemessbaren Menge, sind auch die abgeschlossenen Mengen Lebesguemessbar.

 

Damit schließen wir unsere Beweisskizze ab.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

14.5.4 Borelmengen

 

Das äußere Lebesguemaß ist additiv auf der \( \sigma \)-Algebra \( {\mathcal A} \) aller Mengen, die das Caratheodorysche Messbarkeitskriterium erfüllen. Insbesondere sind offene Mengen in \( {\mathcal A} \) enthalten.

 

Definition: Der Durchschnitt aller \( \sigma \)-Algebren, die alle offenen Mengen enthalten, heißt die Borelsche \( \sigma \)-Algebra \( {\mathcal B}. \) Ihre Elemente heißen Borelmengen.

 

Als Übung zeige man, dass es sich bei der Borelschen \( \sigma \)-Algebra tatsächlich um eine \( \sigma \)-Algebra im Sinne unserer Definition aus Paragraph 14.5.1 handelt. Als weitere Übung belassen wir einen Beweis von

 

Satz: Borelmengen in \( \mathbb R^n \) sind Lebesguemessbar.

 

Die Umkehrung dieser Aussage ist falsch, was durch Beispiele belegt werden kann. Hierauf gehen wir an dieser Stelle jedoch nicht ein.

 

Borelmengen sind beispielsweise

\( \circ \) alle beschränkten offenen und beschränkten abgeschlossenen Teilmengen des \( \mathbb R^n; \)
\( \circ \) jede Menge, die als abzählbare (unendliche) Vereinigung oder als abzählbarer (unendlicher) Durchschnitt von Borelmengen darstellbar ist.

 

Beispiel: Wegen \[ \{x_0\}=\bigcap_{k=1}^\infty\left(x_0-\frac{1}{k},x_0+\frac{1}{k}\right) \] lassen sich Punkte \( \{x_0\}\subset\mathbb R \) der Zahlengeraden als abzählbarer Durchschnitt beschränkter offener Teilmengen aus \( \mathbb R \) darstellen und sind damit Lebesguemessbar mit \( \ell_n^*(\{x_0\})=0. \)

 


 

 

14.5.5 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Was versteht man unter einer \( \sigma \)-Algebra?
2. Was versteht man unter der kleinsten \( \sigma \)-Algebra in \( \mathbb R^n? \) Begründen Sie, dass es sich tatsächlich um eine \( \sigma \)-Algebra handelt.
3. Was versteht man unter der größten \( \sigma \)-Algebra in \( \mathbb R^n? \) Begründen Sie, dass es sich tatsächlich um eine \( \sigma \)-Algebra handelt.
4. Beweisen Sie, dass das Mengensystem

\[ \{\emptyset,\Omega,\Omega^c,\mathbb R^n\}\quad\mbox{mit}\ \Omega\subseteq\mathbb R^n \]

  eine \( \sigma \)-Algebra auf dem \( \mathbb R^n \) darstellt.
5. Beweisen Sie, dass das Mengensystem

\[ {\mathcal A}:=\{A\subseteq\mathbb R^n\,:\,A\ \mbox{endlich oder}\ A^c\ \mbox{endlich}\} \]

  keine \( \sigma \)-Algebra auf dem \( \mathbb R^n \) darstellt.
6. Beweisen Sie, dass

\[ {\mathcal A}:=\{A\subseteq\mathbb R^n\,:\,A\ \mbox{abzählbar oder}\ A^c\ \mbox{abzählbar}\} \]

  eine \( \sigma \)-Algebra auf dem \( \mathbb R^n \) darstellt. Hierbei bedeutet abzählbar: abzählbar endlich oder abzählbar unendlich.
7. Erläutern Sie einen Zusammenhang steht der Begriff der \( \sigma \)-Algebra zur Lebesguemessbarkeit.
8. Sind offene und abgeschlossene Teilmengen des \( \mathbb R^n \) Lebesguemessbar?
9. Was versteht man unter der Borelschen \( \sigma \)-Algebra? Was sind Borelmengen?
10. In welchem Zusammenhang stehen Borelmengen zur Lebesguemessbarkeit?
11. Bennennen Sie Beispiele von Borelmengen in \( \mathbb R^n. \)
12. Stellen Sie Punkte \( \{x_0\}\subset\mathbb R \) als Durchschnitt abzählbar vieler offener Intervalle dar, und begründen Sie auf diese Weise die Lebesguemessbarkeit von Punkten.
13. Zeigen Sie, dass die Vereinigung

\[ N:=\bigcup_{i\ge 1}N_i \]

  abzählbar endlich oder abzählbar unendlich vieler Lebesgue-Nullmengen \( N_1,N_2,\ldots\subset\mathbb R^n \) wieder eine Lebesguesche Nullmenge ist.

 

Rechenaufgaben: 2, 3, 4, 5, 6, 13

 


 

14.6 Approximation Lebesguemessbarer Mengen

 

14.6.1 Der Approximationssatz

 

Das äußere Lebesguemaß ist additiv auf der \( \sigma \)-Algebra \( {\mathcal A} \) aller Mengen, die das Caratheodorysche Messbarkeitskriterium erfüllen. Insbesondere sind offene Mengen in \( {\mathcal A} \) enthalten.

 

Satz: Sei \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) eine beliebige Menge. Dann sind äquivalent:

(i) \( \Omega \) ist Lebesguemessbar im Caratheodoryschen Sinn, d.h. es gilt

\[ \ell_n^*(C)=\ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\cap\Omega^c)\quad\mbox{für alle}\ C\subseteq\mathbb R^n\,. \]

(ii) Zu beliebig vorgegebenem \( \varepsilon\gt 0 \) existiert eine offene Menge \( \Sigma\supseteq\Omega \) mit

\[ \ell_n^*(\Sigma\setminus\Omega)\lt\varepsilon. \]

(iii) Zu beliebig vorgegebenem \( \varepsilon\gt 0 \) existiert eine abgeschlossene Menge \( \Theta\subseteq\Omega \) mit

\[ \ell_n^*(\Omega\setminus\Theta)\lt\varepsilon. \]

 

 

Beweisskizze

 

Wir gehen in mehreren Schritten vor.

1. Wir zeigen die Implikation (i)\( \,\to\, \)(ii).
  Sei zunächst \( \ell_n^*(\Omega)\lt\infty \) vorausgesetzt. Nach Definition von \( \ell_n^* \) existieren abzählbar viele offene und beschränkte Quader \( Q_k\subset\mathbb R^n \) mit

\[ \begin{array}{l} \displaystyle \Omega\subseteq\bigcup_{k\ge 1}Q_k\quad\mbox{sowie} \\ \displaystyle \ell_n^*(\Omega)\le\ell_n^*\left(\bigcup_{k\ge 1}Q_k\right)\lt\ell_n^*(\Omega)+\varepsilon. \end{array} \]

  Das Caratheodorysche Messbarkeitskriterium liefert wegen der Lebesguemessbarkeit von \( \Omega \)

\[ \begin{array}{lll} \displaystyle \ell_n^*\left(\bigcup_{k\ge 1}Q_k\right)\negthickspace & = & \negthickspace\displaystyle \ell_n^*\left(\left[\bigcup_{k\ge 1}Q_k\right]\cap\Omega\right)+\ell_n^*\left(\left[\bigcup_{k\ge 1}Q_k\right]\setminus\Omega\right) \\ & = & \negthickspace\displaystyle \ell_n^*(\Omega)+\ell_n^*\left(\left[\bigcup_{k\ge 1}Q_k\right]\setminus\Omega\right). \end{array} \]

  Subtraktion von \( \ell_n^*(\Omega) \) bringt mit der obigen Abschätzung

\[ \ell_n^*\left(\left[\bigcup_{k\ge 1}Q_k\right]\setminus\Omega\right) =\ell_n^*\left(\bigcup_{k\ge 1}Q_k\right)-\ell_n^*(\Omega) \lt\varepsilon, \]

  was wegen der Offenheit der \( Q_k \) diese Richtung zeigt. Im Fall \( \ell_n^*(\Omega)=\infty \) führen wir die Argumentation für ausschöpfende Mengen \( \Omega_m:=\Omega\cap[-m,m]^n \) durch.
2. Wir zeigen die Implikation (ii)\( \,\to\, \)(i).
  Nach Voraussetzung gibt es eine offene Menge \( \Sigma\subseteq\mathbb R^n \) und ein \( \varepsilon\gt 0 \) mit

\[ \ell_n^*(\Sigma\setminus\Omega)\lt\varepsilon. \]

  Sei nun \( C\subseteq\mathbb R^n \) beliebig gewählt. Auf Grund der Identität

\[ C\setminus\Omega=(C\setminus\Sigma)\cup(\Sigma\setminus\Omega) \]

  folgt unter Beachtung der Monotonie von \( \ell_n^* \)

\[ \ell_n^*(C\setminus\Omega) \le\ell_n^*(C\setminus\Sigma)+\ell_n^*(\Sigma\setminus\Omega) \lt\ell_n^*(C\setminus\Sigma)+\varepsilon. \]

  Hiermit schließen wir wegen der Lebesguemessbarkeit von \( \Sigma \) auf

\[ \begin{array}{lll} \ell_n^*(C)\negthickspace & = & \negthickspace\displaystyle \ell_n^*(C\cap\Sigma)+\ell_n^*(C\setminus\Sigma) \\ & \ge & \negthickspace\displaystyle \ell_n^*(C\cap\Sigma)+\ell_n^*(C\setminus\Omega)-\varepsilon \\ & \ge & \negthickspace\displaystyle \ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\setminus\Omega)-\varepsilon. \end{array} \]

  Zusammen mit der Subadditivität von \( \ell_n^* \) ist also

\[ \ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\setminus\Omega)-\varepsilon \le\ell_n^*(C) \le\ell_n^*(C\cap\Omega)+\ell_n^*(C\setminus\Omega). \]

  Grenzübergang \( \varepsilon\to 0 \) zeigt die Lebesguemessbarkeit von \( \Omega. \)

Damit ist die Äquivalenz (i)\( \,\leftrightarrow\, \)(ii) gezeigt. Zum Beweis der Äquivalenz (i)\( \,\leftrightarrow\, \)(iii) gehen wir von den ersten beiden Beweisschritten aus.

3. Wir zeigen die Implikation (i)\( \,\to\, \)(iii).
  Mit \( \Omega \) ist auch das Komplement \( \Omega^c \) Lebesguemessbar, und nach (ii) existiert zu beliebigem \( \varepsilon\gt 0 \) eine offene Menge \( \Sigma\subseteq\mathbb R^n \) mit

\[ \Omega^c\subseteq\Sigma,\quad \ell_n^*(\Sigma\setminus\Omega^c)\lt\varepsilon. \]

  Wir setzen nun

\[ \Theta:=\mathbb R^n\setminus\Sigma=\Sigma^c. \]

  Dann ist \( \Theta \) abgeschlossen und genügt der Inklusion (die folgenden Zeilen nachrechnen)

\[ \Theta\subseteq\Omega. \]

  Wegen \( \Omega\setminus\Theta=\Sigma\setminus\Omega^c \) ist auch

\[ \ell_n^*(\Omega\setminus\Theta)=\ell_n^*(\Sigma\setminus\Omega^c)\lt\varepsilon. \]

  Das zeigt diese Richtung.
4. Die Richtung (iii)\( \,\to\, \)(i) belassen wir als Übung.

 

Damit schließen wir unsere Beweisskizze ab.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

14.6.2 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Wie lautet der Approximationssatz?
2. Geben Sie ein Beispiel für die Aussage (ii) des Approximationssatzes. Begründen Sie.
3. Geben Sie ein Beispiel für die Aussage (iii) des Approximationssatzes. Begründen Sie.

 

Rechenaufgaben: 2, 3