18. Das Hausdorffsche Maß


 

18.1 Das Hausdorffmaß

 

18.1.1 Definition des Hausdorffmaßes

 

Die Theorie der Hausdorffmaße und der Hausdorffdimension geht zurück auf

 

Hausdorff, F.: Dimension und äußeres Maß. Math. Ann. 79, 157-179, 1918.

 

Es sei \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) eine nichtleere Menge. Wir definieren ihren Durchmesser als \[ \mbox{diam}\,\Omega:=\sup\{|x-y|\,:\,x,y\in\Omega\}\,. \] Seien nun abzählbar viele Mengen \( \{\Omega_i\}_{i=1,2,\ldots} \) gegeben mit \[ \mbox{diam}\,\Omega_i\le\delta\quad\mbox{für alle}\ i=1,2,\ldots \quad\mbox{sowie}\quad \Omega\subseteq\bigcup_{i\ge 1}\Omega_i \] mit einem \( \delta\ge 0. \) Wir bezeichnen \( \{\Omega_i\}_{i=1,2,\ldots} \) als eine \( \delta \)-Überdeckung von \( \Omega. \)

 

Das Hausdorffmaß führen wir nun in zwei Schritten ein. Zunächst die

 

Definition: Es seien \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) eine nichtleere Menge und \( 0\le s\lt\infty \) eine nichtnegative, reelle Zahl. Zu \( \delta\gt 0 \) bezeichnen wir dann die Zahl \[ {\mathcal H}_\delta^s(\Omega) :=\inf\left\{\sum_{k\ge 1}(\mbox{diam}\,\Omega_i)^s\,:\,\{\Omega_i\}_{i=1,2,\ldots}\ \mbox{ist \( \delta \)-Überdeckung von \( \Omega \)}\right\} \] als das \( \delta \)-approximative, \( s \)-dimensionale Hausdorffmaß von \( \Omega. \)

 

Es handelt sich also darum, die Summe der \( s \)-ten Potenzen der Mengendurchmesser aller möglichen \( \delta \)-Überdeckungen zu ermitteln.

 

\( \to \) Mit kleiner werdendem \( \delta\gt 0 \) wird die Zahl \( {\mathcal H}_\delta^s(\Omega) \) wachsen, da die Menge aller dann zulässigen \( \delta \)-Überdeckungen schrumpft.

 

Und daher nun zweitens die

 

Definition: Es heißt die Zahl \[ {\mathcal H}^s(\Omega):=\lim_{\delta\to 0}{\mathcal H}_\delta^s(\Omega)\in[0,\infty] \] das \( s \)-dimensionale Hausdorffmaß der Menge \( \Omega\subseteq\mathbb R^n. \)

 

Die Definition des Maßes unter Benutzung von Durchmessern statt Volumina und einer Dimensionszahl \( s \) gestattet es insbesondere, \( m \)-dimensionale Teilmengen des \( \mathbb R^n \) mit \( m\le n \) auszumessen. Solche Teilmengen haben im Fall \( m\lt n \) i.d.R. verschwindendes Lebesguemaß.

 


 

 

18.1.2 Erste Beispiele

 

Ohne Beweis geben wir an:

 

1. Es ist \( {\mathcal H}^0(\Omega) \) gleich der „Zahl der Punkte“ von \( \Omega. \) Es handelt sich also um ein Zählmaß.
2. Stellt \( \Omega \) eine „hinreichend glatte“ (insb.: Lipschitzstetige) Kurve im \( \mathbb R^n \) dar, so gibt \( {\mathcal H}^1(\Omega) \) die Länge dieser Kurve wieder.
3. Stellt \( \Omega \) ein „hinreichend glattes“ (insb.: Lipschitzstetiges) Flächenstück dar, so ist \( {\mathcal H}^2(\Omega) \) gleich dessen Flächeninhalt bis auf einen dimensionsabhängigen Faktor.

 

Für offene Mengen im \( \mathbb R^n \) stimmt das Hausdorffmaß mit dem äußeren Lebesguemaß (Volumen) bis auf einen dimensionsabhängige Faktor überein \[ {\mathcal H}^n(\Omega)\sim\mbox{Vol}^n(\Omega) \] Detaillierte Aussagen hierzu finden Sie insbesondere in der als Vorlesungsliteratur angegebenen Monographie

 

Evans, L.C.; Gariepy, R.F.: Geometric measure theory and fine properties of functions. 1991

 


 

 

18.1.3 Verhalten unter Skalierung

 

Wir studieren nun das Verhalten des Hausdorffmaßes unter Ähnlichkeitsabbildungen \( T\colon\mathbb R^n\to\mathbb R^n \) mit der charakteristischen Eigenschaft \[ |T(x)-T(y)|=\lambda|x-y|\quad\mbox{für alle}\ x,y\in\mathbb R^n \] mit einem Skalierungsfaktor \( \lambda\gt 0. \) Eine solche Abbildung überführt eine geometrische Figur in eine dazu ähnliche, aber skalierte Figur.

 

Ähnlichkeitsabbildungen sind Translationen, Drehungen und Spiegelungen, verknüpft mit zentrischen Streckungen.

 

Satz: Es sei \( T\colon\mathbb R^n\to\mathbb R^n \) eine Ähnlichkeitsabbildung mit Skalierungsfaktor \( \lambda\gt 0. \) Dann gilt \[ {\mathcal H}^s(T(\Omega))=\lambda^s{\mathcal H}^s(\Omega)\quad\mbox{für alle}\ \Omega\subseteq\mathbb R^n\,. \]

Beweisidee

 

Ist \( \{\Omega_i\}_{i=1,2,\ldots} \) eine \( \delta \)-Überdeckung von \( \Omega, \) so ist \( \{T(\Omega_i)\}_{i=1,2,\ldots} \) eine \( \lambda\delta \)-Überdeckung des Bildes \( T(\Omega) \) mit der Eigenschaft \[ \sum_{i\ge 1}(\mbox{diam}\,T(\Omega_i))^s=\lambda^s\sum_{i\ge 1}(\mbox{diam}\,\Omega_i)^s\,. \] Für die als Infimum bez. aller möglichen \( \lambda\delta \)-Überdeckungen gewählte Zahl \( {\mathcal H}_{\lambda\delta}^s(\Omega) \) bedeutet das aber \[ {\mathcal H}_{\lambda\delta}^s(T(\Omega))\le\lambda^s{\mathcal H}_\delta^s(\Omega). \] Also gilt nach Grenzübergang \( \delta\to 0 \) \[ {\mathcal H}^s(T(\Omega))\le\lambda^s{\mathcal H}^s(\Omega). \] Wir wiederholen nun diese Argumentation für die Inverse \( T^{-1}\colon\mathbb R^n\to\mathbb R^n \) und ersetzen dabei \( \lambda \) durch \( \lambda^{-1}, \) um die umgekehrte Ungleichung zu zeigen.\( \qquad\Box \)

 


 

 

 

18.1.4 Verhalten unter Hölder- und Lipschitzabbildungen

 

Eine Abbildung \( f\colon\Omega\subseteq\mathbb R^n\to\mathbb R^m \) heißt auf \( \Omega \) Hölderstetig, falls gilt \[ |f(x)-f(y)|\le L|x-y|^\alpha\quad\mbox{für alle}\ x,y\in\Omega \] mit einer Lipschitzkonstanten \( L\ge 0 \) und einem Hölderexponenten \( \alpha\in(0,1). \) Ferner heißt die Abbildung \( f(x) \) Lipschitzstetig in \( \Omega, \) falls mit einer Lipschitzkonstanten \( L\ge 0 \) richtig ist \[ |f(x)-f(y)|\le L|x-y|\quad\mbox{für alle}\ x,y\in\Omega. \] Wir wollen im folgenden \( L\gt 0 \) annehmen.

 

Satz: Es sei \( f\colon\Omega\subseteq\mathbb R^n\to\mathbb R^m \) eine Hölderstetige Abbildung. Dann gilt \[ {\mathcal H}^\frac{s}{\alpha}(f(\Omega))\le L^\frac{s}{\alpha}{\mathcal H}^s(\Omega) \] mit den oben angegebenen Konstanten \( L\gt 0 \) und \( \alpha\in(0,1). \)

 

Beweisidee

 

Sei \( \{\Omega_i\}_{i=1,2,\ldots} \) eine \( \delta \)-Überdeckung von \( \Omega. \) Wegen \[ \mbox{diam}\,f(\Omega\cap\Omega_i) \le L\cdot(\mbox{diam}\,\Omega\cap\Omega_i)^\alpha \le L\cdot(\mbox{diam}\,\Omega_i)^\alpha \le L\cdot\delta^\alpha \] für alle \( i=1,2,\ldots \) bildet \( \{f(\Omega\cap\Omega_i)\}_{i=1,2,\ldots} \) eine \( L\delta^\alpha \)-Überdeckung von \( f(\Omega). \) Damit folgt wie im Beweis des Satzes aus Paragraph 18.1.3 \[ \sum_{i\ge 1}\big[\mbox{diam}\,f(\Omega\cap\Omega_i)\big]^\frac{s}{\alpha} \le L^\frac{s}{\alpha}\sum_{i\ge 1}(\mbox{diam}\,\Omega_i)^s \] bzw. nach Definition des approximativen Hausdorffmaßes \[ {\mathcal H}_{L\delta^\alpha}^\frac{s}{\alpha}(f(\Omega))\le L^\frac{s}{\alpha}{\mathcal H}_\delta^s(\Omega). \] Grenzübergang \( \delta\to 0 \) beweist die Behauptung.\( \qquad\Box \)

 

 

Wichtig ist nun der als Folgerung resultierende

 

Satz: Es sei \( f\colon\Omega\subseteq\mathbb R^n\to\mathbb R^m \) eine Lipschitzstetige Abbildung. Dann gilt \[ {\mathcal H}^s(f(\Omega))\le L^s{\mathcal H}^s(\Omega). \]

Ist also beispielsweise \( f(x) \) eine Isometrie mit der charakterisierenden Eigenschaft \[ |f(x)-f(y)|=|x-y|\quad\mbox{für alle}\ x,y\in\mathbb R^n\,, \] so gilt (siehe auch vorigen Paragraphen) \[ {\mathcal H}^s(f(\Omega))={\mathcal H}^s(\Omega). \] Auch hieran erkennen wir noch einmal, dass das Hausdorffmaß translations- und rotationsinvariant ist.

 


 

 

18.1.5 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Was versteht man unter einer \( \delta \)-Überdeckung?
2. Wie lautet das \( \delta \)-approximative \( s \)-dimensionale Hausdorffmaß?
3. Wie lautet das \( s \)-dimensionale Hausdorffmaß? Wie erhält man es aus dem \( \delta \)-approximativen \( s \)-dimensionalen Hausdorffmaß?
4. Es sei \( \Omega\subset\mathbb R \) eine aus \( n\in\mathbb N \) verschiedenen Punkten gegebene, endliche Menge. Ermitteln Sie \( {\mathcal H}^0(\Omega) \) sowie \( {\mathcal H}^s(\Omega) \) für \( s\gt 0. \)
5. Es sei \( s\ge 0, \) und es sei \( \Omega\subset\mathbb R \) mit \( {\mathcal H}_\delta^s(\Omega)=0 \) für irgendein \( \delta\gt 0. \) Zeigen Sie, dass dann notwendig \( {\mathcal H}^s(\Omega)=0 \) folgt.
6. Beweisen Sie die Identität

\[ \ell_1^*([0,1])={\mathcal H}^1([0,1]). \]

7. Geben Sie je ein Beispiel
 
\( \circ \) einer Lipschitzstetigen Abbildung \( f\colon\mathbb R\to\mathbb R \) und
\( \circ \) einer Hölderstetigen Abbildung \( f\colon\mathbb R\to\mathbb R. \)
  Fertigen Sie eine Skizze an, und erläutern Sie.
8. Es sei \( f\colon[a,b]\to\mathbb R \) auf dem kompakten Intervall \( [a,b]\subset\mathbb R \) stetig differenzierbar. Beweisen Sie, dass dann \( f(x) \) auf \( [a,b] \) auch Lipschitzstetig ist. Wie lautet die Lipschitzkonstante? Gilt von dieser Aussage auch die Umkehrung?
9. Wie verhält sich das Hausdorffmaß unter Hölderabbildungen?
10. Wie verhält sich das Hausdorffmaß unter Lipschitzabbildungen?

 

Rechenaufgaben: 4, 5, 6, 7, 8

 


 

18.2 Die Hausdorffdimension

 

18.2.1 Definition der Hausdorffdimension

 

Es sei \( \{\Omega_i\}_{i=1,2,\ldots} \) eine \( \delta \)-Überdeckung von \( \Omega. \) Falls \( t\gt s, \) so ermitteln wir \[ \sum_{i\ge 1}(\mbox{diam}\,\Omega_i)^t =\sum_{i\ge 1}(\mbox{diam}\,\Omega_i)^{t-s}\cdot(\mbox{diam}\,\Omega_i)^s \le\delta^{t-s}\cdot\sum_{i\ge 1}(\mbox{diam}\,\Omega_i)^s \] wegen \( \mbox{diam}\,\Omega_i\le\delta \) für alle \( i=1,2,\ldots \) Wir erhalten also die Abschätzung \[ {\mathcal H}_\delta^t(\Omega)\le\delta^{t-s}{\mathcal H}_\delta^s(\Omega), \] und unter der zusätzlichen Voraussetzung \( {\mathcal H}^s(\Omega)\lt\infty \) ist damit nach Grenzübergang \( \delta\to 0 \) \[ {\mathcal H}^t(\Omega)=0\quad\mbox{für alle}\ t\gt s. \]

 

Ist aber \( t\lt s \) (und \( \mbox{diam}\,\Omega_i\gt 0 \)), so argumentieren wir wie folgt \[ \sum_{i\ge 1}(\mbox{diam}\,\Omega_i)^t =\sum_{i\ge 1}\frac{(\mbox{diam}\,\Omega_i)^s}{(\mbox{diam}\,\Omega_i)^{s-t}} \ge\sum_{i\ge 1}\frac{(\mbox{diam}\,\Omega_i)^s}{\delta^{s-t}} =\frac{1}{\delta^{s-t}}\cdot\sum_{i\ge 1}(\mbox{diam}\,\Omega_i)^s \] wegen \( \mbox{diam}\,\Omega_i\le\delta \) für alle \( i=1,2,\ldots \) Das liefert die Abschätzung \[ {\mathcal H}_\delta^t(\Omega)\ge\frac{1}{\delta^{s-t}}\,{\mathcal H}_\delta^s(\Omega), \] und unter der zusätzlichen Voraussetzung \( 0\lt{\mathcal H}^s(\Omega)\lt\infty \) erhalten wir nach Grenzübergang \( \delta\to 0 \) \[ {\mathcal H}^t(\Omega)=\infty\quad\mbox{für alle}\ t\lt s. \] Das bedeutet:

 

\( \to \) Es existiert ein kritischer Wert \( 0\le s\lt\infty, \) bei welchem das Hausdorffmaß von \( \infty \) nach \( 0 \) springt.

 

Definition: Dieser kritische Wert \( s\in[0,\infty) \) heißt die Hausdorffdimension der Menge \( \Omega, \) in Zeichen \[ \mbox{dim}_H\Omega\in[0,\infty]. \]

 

Diese Definition ist natürlich sehr unscharf. Insbesondere gelten (was natürlich eines Beweises bedarf) \[ \inf\{s\ge 0\,:\,{\mathcal H}^s(\Omega)=0\}=\sup\{s\ge 0\,:\,{\mathcal H}^s(\Omega)=\infty\}\,, \] und man verwendet eine dieser beiden Größen als Definition der Hausdorffdimension \( \mbox{dim}_H(\Omega). \) Genau das ist aber mit unserer „umgangssprachlichen“ Definition gemeint.

 

Bemerkung: Wir notieren noch einmal \[ {\mathcal H}^s(\Omega) =\left\{ \begin{array}{cl} \infty\,, & \mbox{falls}\ 0\le s\lt\mbox{dim}_H(\Omega) \\ 0, & \mbox{falls}\ s\gt\mbox{dim}_H(\Omega) \end{array} \right.. \]

 


 

 

18.2.2 Erste Eigenschaften der Hausdorffdimension

 

Ohne Beweis notieren wir:

 

1. Die Hausdorffdimension ist monoton im Sinne von

\[ \mbox{diam}_H\Omega\le\mbox{dim}_H\Theta,\quad\mbox{falls}\ \Omega\subseteq\Theta. \]

2. Die Hausdorffdimension ist (abzählbar) stabil im Sinne von

\[ \mbox{dim}_H\bigcup_{i=1}^\infty\Omega_i=\sup_{i=1,2,\ldots}\mbox{dim}_H\Omega_i \]

  für abzählbare Mengenfolgen \( \{\Omega_i\}_{i=1,2,\ldots} \)
3. Ist \( \Omega\subset\mathbb R^n \) endlich oder abzählbar unendlich, so gilt \( \mbox{dim}_H\Omega=0. \)
4. Ist \( \Omega\subseteq\mathbb R^n \) offen, so gilt \( \mbox{dim}_H\Omega=n. \)
5. Ist \( \Omega\subset\mathbb R^n \) eine hinreichend glatte, genauer Lipschitzstetige \( m \)-dimensionale Untermannigfaltigkeit, so gilt \( \mbox{dim}_H\Omega=m. \)

 

Der Begriff der Untermannigfaltigkeit wird erst in den nächsten Kapiteln besprochen.

 


 

 

18.2.3 Invarianzeigenschaft der Hausdorffdimension

 

Wir wollen uns davon überzeugen, dass die Hausdorffdimension invariant unter Bilipschitzabbildungen ist. Dazu beginnen wir mit dem

 

Hilfssatz: Die Abbildung \( f\colon\Omega\subseteq\mathbb R^n\to\mathbb R^m \) sei Hölderstetig. Dann gilt \[ \mbox{dim}_Hf(\Omega)\le\frac{1}{\alpha}\,\mbox{dim}_H\Omega \] mit dem Hölderexponenten \( \alpha\in(0,1). \)

 

Beweis

 

Ist nämlich \( s\gt\mbox{dim}_H\Omega \) bebliebig, so finden wir nach dem ersten Satz aus Paragraph 18.1.4 \[ {\mathcal H}^\frac{s}{\alpha}(f(\Omega))\le L^\frac{s}{\alpha}{\mathcal H}^s(\Omega), \quad\mbox{also auch}\ {\mathcal H}^\frac{s}{\alpha}(f(\Omega))=0 \] mit der oben eingeführten Lipschitzkonstanten \( L\gt 0. \) Also muss \[ \mbox{dim}_Hf(\Omega)\le\frac{s}{\alpha} \] richtig sein, und zwar für alle \( s\gt\mbox{dim}_H\Omega. \) Das war zu zeigen.\( \qquad\Box \)

 

 

Beachten Sie, dass zwar der Hölderexponent \( \alpha\in(0,1), \) aber nicht die Lipschitzkonstante \( L\gt 0 \) in der bewiesenen Abschätzung vorkommt. Das bedeutet aber

 

Satz: Ist \( f\colon\Omega\subseteq\mathbb R^n\to\mathbb R^m \) Lipschitzstetig, so gilt \[ \mbox{dim}_Hf(\Omega)\le\mbox{dim}_H\Omega. \] Und ist \( f(x) \) sogar Bilipschitzstetig, d.h. ist \[ L_1|x-y|\le|f(x)-f(y)|\le L_2|x-y|\quad\mbox{für alle}\ x,y\in\Omega \] mit Konstanten \( L_1,L_2\gt 0, \) so gilt sogar \[ \mbox{dim}_Hf(\Omega)=\mbox{dim}_H\Omega. \]

 

Das ist die eingangs angekündigte Invarianzeigenschaft der Hausdorffdimension.

 


 

 

18.2.4 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Was versteht man unter der Hausdorffdimension. Erläutern Sie mit eigenen Worten.
2. Es sei \( \Omega\subset\mathbb R \) eine aus \( n\in\mathbb N \) verschiedenen Punkten gegebene, endliche Menge. Ermitteln Sie unter Benutzung der Definition aus Paragraph 18.2.1 und von Aufgabe 4 aus Paragraph 18.1.5 deren Hausdorffdimension.
3. Es bezeichne \( B\subset\mathbb R^2 \) die offene Einheitskreisscheibe. Wie lautet deren Hausdorffdimension? Benutzen Sie eine geeignete Eigenschaft der Hausdorffdimension aus Paragraph 18.2.2.
4. Nach der fünften Eigenschaft der Hausdorffdimension aus Paragraph 18.2.2 berechnet sich die Hausdorffdimension der Kreises vom Radius \( r\gt 0 \) zu \( 1. \) Schließen Sie hieraus und unter Benutzung der vorigen Aufgabe auf die Hausdorffdimension der abgeschlossenen Einheitskreisscheibe im \( \mathbb R^2. \)
5. Wie verhält sich die Hausdorffdimension unter Lipschitz- bzw. Bilipschitzabbildungen?
6. Unter Verwendung des Hinweises aus Aufgabe 4 über die Hausdorffdimension des Einheitskreises und des Satzes aus Paragraph 18.2.3, d.h. durch Konstruktion einer geeigneten Bilipschitzabbildung, ist die Hausdorffdimension einer ebenen Ellipse mit Hauptradien \( 0\lt R_1\lt R_2\lt \infty \) zu ermitteln.

 

Rechenaufgaben: 2, 3, 4, 6

 


 

18.3 Fraktale Mengen

 

18.3.1 Der Cantorstaub

 

Diese Menge erhalten wir wie folgt:

1. Zerlege das abgeschlossene Einheitsquadrat in \( 16 \) kongruente Teilquadrate.
2. Lösche \( 12 \) Teilquadrate und behalte \( 4 \) abgeschlossene Teilquadrate, wie im Bild gezeichnet.
3. Wende diese Prozedur auf die \( 4 \) verbleibenden, abgeschlossenen Teilquadrate an.

 

 


 

 

Die nach „unendlicher Anwendung“ dieser Prozedur erhaltene Punktmenge im \( \mathbb R^2 \) heißt Cantorstaub.

 

Satz: Für den Cantorstaub \( F\subset\mathbb R^2 \) gelten \[ 1\le{\mathcal H}^1(F)\le\sqrt{2}\,,\quad \mbox{dim}_HF=1. \]

 

Beweis
1. Die Punktmenge \( F_k, \) die wir nach \( (k-1) \)-facher Anwendung der oben beschriebenen Prozedur erhalten, besteht aus \( 4^k \) Teilquadraten der gemeinsamen Seitenlängen \( 4^{-k}. \) Die vorigen Bilder zeigen \( F_1 \) bis \( F_4. \) Wir nehmen also die \( 4^k \) Quadrate der Menge \( F_k \) als \( \delta \)-Überdeckung des Cantorstaubs mit

\[ \delta=\sqrt{2}\cdot 4^{-k} \]

  (mit dem Durchmesser \( \sqrt{2}\cdot 4^{-k} \) eines jeden der \( 4^k \) Teilquadrate). Es folgt

\[ {\mathcal H}_\delta^1(F)\le 4^k\cdot(\sqrt{2}\cdot 4^{-k})=\sqrt{2}\,, \]

  denn \( {\mathcal H}_\delta^1(F) \) wird ja als Infimum berechnet. Diese Abschätzung gilt nun für alle \( \delta\gt 0, \) so dass wir nach Grenzübergang wie behauptet erhalten \( {\mathcal H}^1(F)\le\sqrt{2}. \)
2. Es bezeichne nun \( P\colon\mathbb R^2\to\mathbb R^2 \) die orthogonale Projektion einer Menge des \( \mathbb R^2 \) auf die \( x \)-Achse. Diese Abbildung besitzt die Eigenschaft, gegenseitige Abstände von Punkten nach der Projektion nicht zu vergrößern, d.h. es gilt

\[ |P(x)-P(y)|\le|x-y|\quad\mbox{für alle}\ x,y\in\mathbb R^2\,. \]

  Diese orthogonale Projektion ist also Lipschitzstetig mit \( L\le 1. \)
3. Wir wenden nun die orthogonale Projektion \( P(x) \) auf unsere Konstruktion an: Nach jedem Schritt bildet sie \( F_k \) surjektiv auf das Intervall \( [0,1]. \) Es folgt (die Gleichheit in der zweiten Zeile bleibt im Detail offen)

\[ \begin{array}{lll} 1\negthickspace & = & \negthickspace\displaystyle |[0,1]| \,=\,\ell_1^*([0,1]) \,=\,{\mathcal H}^1([0,1]) \,=\,{\mathcal H}^1(P(F_k)) \\ & = & \negthickspace\displaystyle {\mathcal H}^1(P(F)) \,\le\,{\mathcal H}^1(F). \end{array} \]

  und damit \( 1\le{\mathcal H}^1(F). \)
4. Wegen \( 1\le{\mathcal H}^1(F)\le\sqrt{2} \) folgt auch \( \mbox{dim}_H(F)=1 \) nach Definition der Hausdorffdimension.

 

Damit ist der Satz bewiesen.\( \qquad\Box \)

 

 


 

 

18.3.2 Fraktale Dimension

 

Der Cantorstaub ist ein Beispiel eines sogenannten Fraktals. Der Begriff des Fraktals geht auf B. Mandelbrot zurück und bezeichnet eine Menge mit „zu wenig“ Regularität (nach dem lateinischen Wort fractus).

 

Es gibt keine mathematische Definition des Fraktalbegriffes. Wir erwarten aber von einer fraktalen Menge \( F \) Eigenschaften wie die folgenden:

\( \circ \) \( F \) besitzt eine nichttriviale Feinstruktur.
\( \circ \) Diese Feinstruktur kann auf Grund ihrer Irregularität nicht mit den klassischen Mitteln der Differentialrechnung, der Riemannschen Integrationstheorie usw. befriedigend erfasst und behandelt werden.
\( \circ \) \( F \) besitzt eventuell eine selbstähnliche Struktur, und eventuell ist \( F \) rekursiv definiert.
\( \circ \) Die sogenannte „fraktale Dimension“ von \( F \) sollte größer sein als ihre topologische Dimension.

 

Die topologische Dimension einer Menge ist eine natürliche Zahl. Sie lässt sich in etwa wie folgt rekursiv definieren: Sie ist \( 0 \) für einen Punkt bzw. eine total unzusammenhängende Menge; sie ist \( 1, \) falls jeder Punkt der Menge eine hinreichend kleine Umgebung besitzt, deren Rand die Dimension \( 0 \) hat usw.; sie ist \( -1 \) für die leere Menge.

 

Der Begriff der fraktalen Dimension ist hingegen nicht eindeutig festgelegt. Oft wird in diesem Zusammenhang auf die Hausdorffdimension verwiesen. Da diese aber für viele praktische Beispiel nur schwer oder auch gar nicht zu bestimmen ist, begnügt man sich mit alternativen Begriffsdimensionen mit ihren eigenen Vor- und Nachteilen.

 

Wir werden im Folgenden zwei solcher alternativen Definition an Beispielen kennenlernen, nämlich die sogenannte Ähnlichkeitsdimension und die Boxdimension.

 


 

 

18.3.3 Die Cantorsche Mittel-Drittel-Menge

 

Die Cantorsche Mittel-Drittel-Menge \( C\subset\mathbb R \) kennen wir bereits aus Aufgabe 14 in Paragraph 14.2.5. Sie besitzt die folgenden Eigenschaften:

\( \circ \) \( C \) ist selbstähnlich, insbesondere besteht \( C_1 \) aus zwei disjunkten Teilen, die jeweils ähnlich zur Ausgangsmenge \( C_0 \) sind.
\( \circ \) \( C \) besitzt auf Grund dieser Selbstähnlichkeit eine nichttriviale Feinstruktur auf jeder beliebigen Skala.
\( \circ \) \( C \) entsteht durch einen rekursiven Prozess.

 

Satz: Es gilt \[ {\mathcal H}^s(C)=1\quad\mbox{für}\ s=\frac{\ln 2}{\ln 3}\approx 0.6309\ldots \] Beweisidee

Wir gehen nur auf die Ermittlung der Hausdorffdimension unter Verwendung des folgenden „Alternativarguments“:

1. Setzen wir zunächst

\[ C_L:=C\cap\left[0,\frac{1}{3}\right],\quad C_R:=C\cap\left[\frac{2}{3},1\right], \]

  so gilt die disjunkte Zerlegung

\[ C=C_L\cup C_R\,. \]

  Die Mengen \( C_L \) und \( C_R \) sind zu \( C \) ähnlich und entstehen aus \( C \) nach Skalierung mit dem gemeinsamen Faktor \( \frac{1}{3}. \) Wir berechnen daher

\[ {\mathcal H}^s(C) ={\mathcal H}^s(C_L)+{\mathcal H}^s(C_R) =\left(\frac{1}{3}\right)^s{\mathcal H}^s(C)+\left(\frac{1}{3}\right)^s{\mathcal H}^s(C). \]

  Die letzte Gleichheit hierin ist nichts anderes als die Skalierungsinvarianz des Hausdorffmaßes.
2. Ist also \( s \) der kritische Wert der Hausdorffdimension unter der Annahme

\[ 0\lt{\mathcal H}^s(C)\lt\infty\,, \]

  so können wir die Gleichung durch \( {\mathcal H}^s(C) \) dividieren und erhalten

\[ 1=2\cdot\left(\frac{1}{3}\right)^s \quad\mbox{bzw.}\quad s=\frac{\ln 2}{\ln 3}\,. \] Damit schließen wir unsere Beweisidee ab.\( \qquad\Box \)

 

Für Details zum Beweis des Satzes verweisen wir auf die als Vorlesungsliteratur gegebenen Lehrbücher von K. Falconer.

 


 

 

18.3.4 Die Ähnlichkeitsdimension

 

Die Zahl \( s, \) die wir im vorigen Paragraphen tatsächlich berechnet haben, bezeichnet man als Ähnlichkeitsdimension. Sie entspricht in diesem Beispiel der Hausdorffdimension, was natürlich eines Beweises bedarf.

 

Die Ähnlichkeitsdimension kann nur für rekursiv definierte, selbstähnliche Mengen berechnet werden. Sie spiegelt die Selbstähnlichkeit und die Skalierungseigenschaften einer fraktalen Menge wieder.

 

Unter der Ähnlichkeitsdimension verstehen wir genauer den Quotienten \[ -\,\frac{\ln\mbox{(Anzahl der Unterteilungen)}}{\ln\mbox{(Skalierungsfaktor)}}\,. \] Wir wollen das an einem einfachen Beispiel näher betrachten.

 


 

 

18.3.5 Die Kochsche Schneeflocke

 

Unterteile das Segment \( [0,1]\subset\mathbb R \) in \( 3 \) Teilintervalle, lösche das offenemittlere Drittel und errichte darüber zwei anliegende Seiten eines gleichseitigen Dreiecks der Seitenlänge \( \frac{1}{3}. \) Wende dieses Verfahren auf die vier neuen Segmente an usw. Im „Grenzfall“ ergibt sich die sogenannte Kochsche Kurve.

 

Die Ähnlichkeitsdimension dieser Menge berechnet sich zu \[ -\,\frac{\ln 4}{\ln\frac{1}{3}}=\frac{\ln 4}{\ln 3}\approx 1.262\ldots \] Hier die ersten Konstruktionsschritte:

 


 

 

Die Kochsche Kurve besitzt in keinem ihrer Punkte eine Tangente.

 

In den Übungen werden wir eine Menge konstruieren, deren Ähnlichkeitsdimension echt größer als \( 2 \) ist. Das zeigt, dass diese Dimension nicht für beliebige Mengen geeignet ist.

 


 

 

18.3.6 Weierstraß' nirgends differenzierbare Funktion

 

Hierunter versteht man die stetige, aber nirgends differenzierbarer Funktionen \[ f(x)=\sum_{k=0}^\infty a^k\cos(2\pi b^kx),\quad x\in\mathbb R, \] mit \( 0\lt a\lt 1\lt b \) und \( ab\gt 1. \) Die Hausdorffdimension des Graphen dieser Funktion lautet \[ 2+\frac{\ln a}{\ln b}\, \] siehe z.B. Shen, W.: Hausdorff dimension of the graphs of the classical Weierstraß functions, 2016.

 

 

 

 

Wir verweisen beispielsweise auf Shen, W.: Hausdorff dimension of the graphs of the classical Weierstraß functions, 2016.

 


 

 

18.3.7 Boxdimension und Pegelhöchststände des Rheins

 

Den Ursprung der Logarithmen in obiger Definition der Ähnlichkeitsdimension kann man sich wie folgt klarmachen:

\( \circ \) Vorgelegt sei das Einheitsquadrat im \( Q\subset\mathbb R^2. \)
\( \circ \) Zerlege \( Q \) in \( 4 \) kongruente Teilquadrate durch Skalierung von \( Q \) mit dem Faktor \( \frac{1}{2}. \) Es gilt

\[ 4=\frac{1}{\frac{1}{2}^2}\,, \quad\mbox{in Worten: }\quad \mbox{Anzahl der Teilquadrate}=\frac{1}{\mbox{Skalierungsfaktor}^2}\,. \]

\( \circ \) Zerlege jedes Teilquadrat in \( 4 \) kongruente Teilquadrate. Wir erhalten \( 16 \) neue Teilquadrate durch Skalierung von \( Q \) mit dem Faktor \( \frac{1}{4}. \) Es gilt

\[ 16=\frac{1}{\frac{1}{4}^2}\,,\quad \mbox{in Worten: }\quad \mbox{Anzahl der Teilquadrate}=\frac{1}{\mbox{Skalierungsfaktor}^2}\,. \] Dieses Verfahren führe man nun immer weiter fort. Setzen wir allgemein \[ \begin{array}{lll} N & - & \mbox{Anzahl der neuen Teilquadrate} \\ s & - & \mbox{Skalierungsfaktor}^{-1} \end{array}, \] so ergibt sich der Zusammenhang \( N=s^2 \) bzw. nach Umstellen \[ 2=\frac{\ln N}{\ln s}\,. \] Die Zahl \( 2 \) links ist die bekannte Dimension des Quadrats. Geeignete Unterteilungen des Einheitsintervalls in \( \mathbb R \) oder des Einheitswürfels in \( \mathbb R^3 \) würden nach einer analogen Argumentation die Dimensionen \( 1 \) bzw. \( 3 \) ergeben.

 

Die Ähnlichkeitsdimension lässt sich nur für selbstähnliche Mengen sinnvoll auswerten. Folgende einfache Verallgemeinerung, die unserer Eingangsüberlegung ebenfalls Rechnung trägt, liefert aber ebenso einen „experimentellen Dimensionsausdruck“, und zwar für selbstähnliche wie auch für nicht selbstähnliche Mengen:

 

Vorgelegt sei eine beschränkte Kurve \( C \) im \( \mathbb R^2, \) z.B. enthalten in einem beschränkten Quadrat \( Q\subset\mathbb R. \) Wir bestimmen ihre Boxdimension vermittels folgender Methode:

1. Überdecke \( C \) mit einem kartesischen Gitter, d.h. mit einem aus achsenparallelen Quadraten der Seitenlänge \( s \) bestehenden Gitternetz.
2. Zähle die Überdeckungszahl \( N(s) \) der Teilquadrate des Gitter, d.h. die Zahl der Teilquadrate, die einen Anteil der Kurve enthalten; dabei darf jedes Teilquadrat höchstens einmal gezählt werden.
3. Verkleinere \( s \) und zähle die zugehörige neue Überdeckungszahl \( N(s). \)
4. Trage verschiedene Wertepaare \( (s,N(s)) \) in einem \( \ln\frac{1}{s} \)-\( \ln N(s) \)-Diagramm ab.
5. Bestimme eine Ausgleichsgerade durch die abgetragenen Punkte, z.B. durch die Methode der kleinsten Quadrate.

Der Anstieg dieser Ausgleichsgerade bezeichnen wir als experimentelle Boxdimension oder auch experimentelle Boxzähldimension.

 

Im praktischen Beispiel könnte das Verkleinern von \( s \) durch sukzessive Halbierung geschehen. Ferner muss darauf geachtet werden, dass in Beispielen aus der Praxis oder aus der Natur die beschriebene Methode nur dann sinnvolle Ergebnisse liefert, wenn \( s \) innerhalb eines dem Problem zugehörigen „Gültigkeitsbereichs“ entstammt - zu kleine Werte oder auch zu große Werte für \( s \) sind nicht zulässig.

 

Wir bemerken dazu schließlich, dass, im Gegensatz zu Ähnlichkeitsdimension, der Wert der Boxdimension ebener Mengen stets kleiner, höchstens gleich \( 2 \) ist.

 

Der Hydrologe H.E. Hurst (1880-1978) ist bekannt für seine umfangreichen und sehr detaillierten Untersuchungen über das Flussverhalten des Nils im Rahmen der Entwicklung ägyptischer Bewässerungssysteme, die auch Mandelbrot zu seinen Arbeiten über gebrochene Dimensionen angeregt haben. Hiervon motiviert, wollen wir in den Aufgaben die oben beschriebene Methode der Bestimmung der Boxdimension auf die täglichen Pegelhöchststände des Rheins in Mainz anwenden.

 

Bemerkung: Zur Definition der eigentlichen Boxdimension verweisen wir auf die Vorlesungsliteratur.

 


 

 

18.3.8 Hilberts flächenfüllende Kurve

 

Im Jahre 1891 stellte D. Hilbert ein Beispiel einer nirgends differenzierbaren, aber überall stetigen und sogar flächenfüllenden Kurve vor, definiert auf dem kompakten Einheitsintervall \( [0,1]. \)

 

Hier die wesentlichen Konstruktionsschritte:

1. Die Strecke \( [0,1] \) teilen wir in \( 4 \) gleiche Teilstrecken und das Einheitsquadrat in \( 4 \) gleiche Teilquadrate \( 1, \) \( 2, \) \( 3, \) \( 4. \) Jeder Teilstrecke wird ein Teilquader zugeordnet (Bild unten links).
2. Nun teile jede Teilstrecke wiederum in \( 4 \) gleiche Teilstrecken, es entstehen \( 16 \) neue Teilstrecken. Gleichzeitig teile jede der \( 4 \) Quadrate in \( 4 \) gleiche Quadrate, es entstehen \( 16 \) neue Quadrate mit der im mittleren Bild angedeuteten Anordnung.
3. Wir denken uns dieses Verfahren unendlich oft fortgesetzt.

 

 

In jedem Konstruktionsschritt wird einem kompakten Teilintervall in \( [0,1]\subset\mathbb R \) ein kompaktes Teilquadrat in \( [0,1]\times[0,1]\subset\mathbb R^2 \) zugeordnet und umgekehrt. Im „Grenzfall“ entsteht nach Anwendung des Cantorschen Durchschnittssatzes aus Paragraph 10.2.2 unserer Vorlesung zur Analysis 2 eine Abbildung \[ h\colon[0,1]\to[0,1]\times[0,1]. \]

 

Satz: Die so gefundene Abbildung ist eindeutig und stetig, aber nirgends differenzierbar. Sie ist aber nicht eineindeutig, insbesondere entsprechen einem jeden Punkt des Quadrats ein, zwei, drei oder vier Punkte der Linie.

 

Die Hilbertsche Kurve bezeichnen wir Grund ihrer rekursiven Definition und ihrer Feinstruktur als Fraktal. Sie kann aber im gewöhnlichen Sinn nicht als Kurve angesehen werden, ihre Hausdorffdimension besitzt tatsächlich den Wert \( 2. \)

 

 

Die ersten Konstruktionsschritte der Hilbertkurve und einfacher Variationen lassen sich sehr gut eigenhändig nachvollziehen. Drucken Sie dazu die nachfolgenden Anhänge aus, und zeichnen Sie die gesuchten Kurven ein.

\( \to \) Bleistiftkonstruktion der Hilbertkurve
\( \to \) Bleistiftkonstruktion Variation I der Hilbertkurve
\( \to \) Bleistiftkonstruktion Variation II der Hilbertkurve
\( \to \) Bleistiftkonstruktion Variation III der Hilbertkurve
\( \to \) Bleistiftkonstruktion eines eigenen Motivs

 

Flächen- und raumfüllende Kurven findet man oft in der Biologie: Die Natur muss sich nämlich u.a. der Aufgabe stellen, dreidimensionale Raumbereiche, wie z.B. die menschliche Niere, durch nahezu eindimensionale Kurvennetze, also z.B. die Blutgefäße, möglichst lückenlos zu überdecken.

 


 

 

18.3.9 Aufgaben und Wiederholungsfragen

 

1. Was versteht man unter der Ähnlichkeitsdimension?
2. Ermitteln Sie die Ähnlichkeitsdimension der Cantorschen Mittel-Drittel-Menge. Begründen Sie.
3. Ermitteln Sie die Ähnlichkeitsdimension des Cantorstaubs. Begründen Sie.
4. Erläutern Sie die Konstruktion des Sierpinskidreiecks aus untenstehender Abbildung, und ermitteln Sie dessen Ähnlichkeitsdimension.

 

 

5. In Verallgemeinerung der vorgestellten und diskutierten Konstruktion der Kochschen Kurve, betrachten wir, ausgehend vom Einheitsintervall, die folgende rekursive Konstruktion:

 


 

  Hier oben die ersten drei Konstruktionsschritte, unten der vierte Konstruktionsschritt:

 

 

  Ermitteln Sie die Ähnlichkeitsdimension dieser Menge. Erläutern Sie.
6. Begründen Sie mit Resultaten aus der Analysis 2 die Stetigkeit der Weierstraßschen Funktion

\[ f(x)=\sum_{k=0}^\infty a^k\cos(2\pi b^kx),\quad x\in\mathbb R, \]

  mit \( 0\lt a\lt 1\lt b \) und \( ab\gt 1. \)
7. Erläutern Sie ein Verfahren zur Bestimmung einer experimentellen Boxdimension.
8. Ermitteln Sie eine experimentelle Boxdimension der folgenden Mengen:
 
(i) Rand des Einheitsquadrats \( \partial Q \)
(ii) Rand des Einheitskreises \( \partial K \)
9. Vorgelegt seien die täglichen Pegelhöchststände (in ccm) des Rheins in Mainz:
 
           
    Mai 2019 Juni 2019 Juli 2019 August 2019
  01. 275 361 328 294
  02. 270 354 325 284
  03. 256 336 321 269
  04. 248 328 320 265
  05. 255 328 316 255
  06. 254 327 312 242
  07. 257 330 313 253
  08. 254 335 312 286
  09. 263 334 312 288
  10. 293 332 303 273
  11. 313 347 294 272
  12. 318 361 297 278
  13. 316 381 295 278
  14. 315 383 298 277
  15. 308 385 283 280
  16. 293 385 275 278
  17. 276 386 277 274
  18. 268 389 276 271
  19. 265 387 268 272
  20. 272 385 258 264
  21. 353 388 254 285
  22. 471 382 251 318
  23. 495 390 248 339
  24. 491 390 237 340
  25. 459 377 236 333
  26. 420 364 230 315
  27. 391 354 230 300
  28. 373 348 260 290
  29. 365 339 273 279
  30. 359 332 281 279
  31. 360   294 277
           
    September 2019 Oktober 2019 November 2019 Dezember 2019
  01. 271 214 274 294
  02. 260 212 284 314
  03. 254 210 289 305
  04. 251 215 295 293
  05. 250 226 314 280
  06. 242 232 325 263
  07. 233 248 324 259
  08. 233 277 323 260
  09. 245 298 329 254
  10. 266 301 328 252
  11. 270 340 322 263
  12. 264 344 306 289
  13. 258 329 293 298
  14. 246 302 279 324
  15. 237 282 270 353
  16. 233 271 264 362
  17. 222 271 257 364
  18. 218 275 249 363
  19. 214 275 244 352
  20. 207 292 242 341
  21. 205 307 243 328
  22. 200 298 240 318
  23. 197 297 237 321
  24. 211 291 233 341
  25. 213 289 231 364
  26. 214 282 223 395
  27. 215 273 220 397
  28. 223 258 221 391
  29. 222 250 234 377
  30. 218 247 250 376
  31.   257   360
           
    Januar 2020 Februar 2020 März 2020 April 2020
  01. 340 273 417 266
  02. 316 317 433 265
  03. 303 360 443 258
  04. 293 497 445 251
  05. 281 549 442 249
  06. 273 550 448 241
  07. 271 536 478 235
  08. 260 494 488 235
  09. 263 445 488 228
  10. 262 396 470 224
  11. 262 384 460 220
  12. 261 405 466 219
  13. 253 406 472 217
  14. 241 409 470 219
  15. 237 416 460 217
  16. 232 419 450 213
  17. 227 415 418 213
  18. 221 395 391 212
  19. 214 394 375 211
  20. 214 396 359 213
  21. 212 394 351 208
  22. 209 383 345 213
  23. 208 369 343 214
  24. 209 355 332 210
  25. 207 367 316 212
  26. 206 375 304 212
  27. 207 386 297 210
  28. 211 396 294 215
  29. 231 402 289 216
  30. 241   281 227
  31. 255   273  
           
  (Quelle: https://www.pegelonline.wsv.de)
  Tragen Sie diese Daten in ein geeignetes Koordinatensystem ab, und ergänzen Sie die Datenpunkte zu einem Polygonzug. Ermitteln Sie eine experimentelle Boxdimension dieser so erhaltenen Menge. Erläutern Sie.
10. Beschreiben Sie die wesentlichen Konstruktionsschritte
 
\( \circ \) des Sierpinskiteppichs und
\( \circ \) des Mengerschwamms.
  Wie hängen diese Figuren miteinander zusammen? Wie berechnen sich ihre Ähnlichkeitsdimensionen?
  Siehe: Wikipedia „Sierpinski-Teppich“ und „Menger-Schwamm“

 

Rechenaufgaben: 2, 3, 4, 5, 6, 8, 9, 10