BOLZANOS AXIOMATIK DER GEOMETRIE I


 

Erklärungen


 

Erklärung 1 (§1): Winkel

Winkel ist dasjenige Prädikat zweier gerader Linien, genannt die Schenkel des Winkels, die einen ihrer äußersten Punkte, dem Scheitel des Winkels, gemein haben.

Dasselbe Prädikat kommt jedem System zweier Linien zu, die bei demselben Anfangspunkt, nämlich dem Scheitel, Teile der anfänglichen beiden Linien sind.


Erklärung 2 (§7): Dreieck

Werden in den Schenkeln \( ca, \) \( cb \) eines Winkels zwei Punkte \( a, \) \( b \) außer dem Scheitel \( c, \) und durch sie

eine gerade Linie \( ab \) angenommen, so heißt das System der geraden Linien \( ca, \) \( cb, \) \( ab \) ein Dreieck.


Erklärung 3 (§16): Ähnlichkeit

Zwei räumliche Dinge heißen ähnlich, wenn alle Merkmale, die aus der Vergleichung der Teile eines jeden unter sich hervorgehen, in beiden gleich sind;

oder wenn sich durch jede mögliche Vergleichung der Teile eines jeden unter sich kein ungleiches Merkmal wahrnehmen lässt.


GRUNDSÄTZE


 

Satz (§18)

Dinge, deren bestimmende Stücke gleich sind, sind selbst gleich.

Grundsatz 1 (§19)

Es ist uns keine besondere Vorstellung von irgend einer bestimmten Entfernung (oder absoluten Länge) einer Linie, d.h. von einer bestimmten Art des Auseinanderseins zweier Punkte a priori gegeben.

Lehrsätze


 

Lehrsätze der Erklärung 1 nachfolgend

Lehrsatz 1 (§3)

Jeder Winkel bestimmt seinen Nebenwinkel eindeutig.

Beweis

Aus der Erklärung (1) ergibt sich, ein Winkel sei bestimmt, wenn es seine Schenkel sind. Nun bestimmen die Schenkel des gegebenen Winkels zugleich die seines Nebenwinkels. Denn diese sind: der Eine ein Schenkel des gegebenen selbst, der Andere eine Verlängerung vom anderen Schenkel des gegebenen Winkels über seinen Scheitel. Aus der Lehre von der geraden Linie weiß man nun, dass diese Verlängerung (abgesehen von ihrer Länge, im obigen Sinne (1)) gegeben sei.  


Anmerkung (§4)

Sind also zwei Winkel gleich, so sind auch ihre Nebenwinkel gleich.

 

 


 

Lehrsatz 2 (§5)

Scheitelwinkel sind gleich, \( ac\beta=bc\alpha. \)

Beweis
  Ihre bestimmenden Stücke sind gleich. Der Winkel \( ac\beta \) ist ein Nebenwinkel des \( acb, \) der Winkel \( bc\alpha \) in eben der Ordnung ein Nebenwinkel des \( bca. \) Ist also \( acb=bca, \) so ist auch \( ac\beta=bc\alpha. \)  

 

Anmerkung (§6)

Bolzano bemerkt zu diesem Satz:

Der ordentliche Weg die Gleichheit zweyer Dinge darzuthun, ist kein andrer: als daß man ex datis die Gleichheit ihrer bestimmenden Stücke schließe. (§.4.) Diesen Weg beachtet der Euklidische Beweis des gegenwärtigen Satzes nicht. Er hat aber in meinen Augen noch nebst dem zwey Mängel. Erstlich menget er schon hier die fremdartige Betrachtung einer Ebne mit ein; denn er addirt Winkeln, welches immer nur unter (obwohl verschwiegenen) Bedingung vorgenommen wird, daß sich die Winkeln in derselben Ebene befinden. Zweytens setzt er voraus, daß Winkel Größen seyen, in welcher Voraussetzung er sie addirt und subtrahirt, und dem bloß arithmetischen Grundsatze: "Gleiches von Gleichen abgezogen, gibt gleiche Reste" unterwirft.

Lehrsätze der Erklärung 2 nachfolgend

Lehrsatz 3 (§10)

In zwei Dreiecken sind

  • die Seiten gleich, die zwei gleichen Seiten entgegenstehen, oder einem gleichen Winkel gegenüberstehen, oder den zwei gleiche Winkel anliegen;
  • die Winkel gleich, die zwei gleichen Winkeln entgegenstehen, oder von zwei gleichen Seiten eingeschlossen werden, oder einer gleichen Seite gegenüber stehen.
Beweis
  Diese Seiten (erster Punkt) und Winkel (zweiter Punkt) werden durch die erwähnten Angaben in ihren Dreiecken bestimmt; denn es gibt nur eine Seite, nur einen Winkel, dem diese Angaben zukommen. Da nun die Dreiecke selbst und diese Angaben in ihnen gleich sind, so sind die bestimmenden Stücke dieser Seiten und Winkel gleich.
 

 

 


 

Lehrsatz 4 (§12)

Zwei Seiten und der von ihnen eingeschlossene Winkel bestimmen das Dreieck eindeutig, dem sie angehören.

Beweis
  Aus der Erklärung 1 des Winkels folgt unmittelbar, dass der Winkel und die bestimmende Länge der Stücke \( ca, \) \( cb \) seiner Schenkel zusammen alle Prädikate des Systems der zwei Linien \( ca, \) \( cb \) enthalte. Denn der Winkel allein enthält dasjenige, was von der bestimmten Länge der Linien \( ca, \) \( cb \) unabhängig ist; kommt also diese auch noch hinzu, so ist alles an diesem Systeme bestimmt. Nun versteht man unter Seiten (eines Dreiecks) - zum Gegensatz von Schenkeln - bestimmte Linien. Also ist alles an dem System der zwei Linien \( ca, \) \( cb \) bestimmt; folglich auch die Punkte \( a, \) \( b; \) also auch die gerade Linie \( ab, \) die durch sie gezogen wird; folglich auch die Winkel, die sie mit den beiden anderen Seiten bildet.
 

 

Anmerkung (§13)

Aus diesem Satz wird man nun zwei korrespondierende Lehrsätze, den einen von der Gleichheit, den anderen von der Ähnlichkeit der Dreiecke folgern.

 

 

 


 

Lehrsatz 5 (§14)

Zwei Dreiecke, in denen zwei Seiten mit dem eingeschlossenen Winkel gleich sind, sind selbst gleich.

Beweis

Denn ihre bestimmenden Stücke sind gleich (siehe Lehrsatz 4).
 


Anmerkung

Hieraus ergeben sich durch Verneinung des Nachsatzes Aussagen wie: Wenn in zwei Dreiecken zwei Seiten gleich, die dritte aber ungleich sind, so muss auch der eingeschlossene Winkel ungleich sein.

Lehrsätze der Erklärung 3 nachfolgend

Lehrsatz 6 (§17)

Dinge, deren bestimmende Stücke ähnlich sind, sind selbst ähnlich.

Beweis
  Sollten sie unähnlich sein, so müsste sich aus der Vergleichung der Teile eines einzelnen unter sich ein ungleiches (d.h. in dem andern nicht so vorhandenes) Merkmal wahrnehmen lassen. Diese Ungleichheit forderte einen Erkenntnisgrund in den Dingen selbst, also in ihren bestimmenden Stücken (denn aus diesen muss alles zu ersehen sein, was in den Dingen selbst liegt). Also müsste in den bestimmenden Stücken eine aus ihrer Vergleichung unter sich erkennbare Verschiedenheit vorhanden sein; folglich wären sie nicht ähnlich.  

 

Anmerkung (§18)

Bolzano fügt diesem Beweis Folgendes hinzu:

Dieser Satz liegt den Lehrsätzen von der Ähnlichkeit eben so zum Grunde, wie der Satz: "Dinge, deren bestimmende Stücke gleich sind, sind selbst gleich" (§.4) den Lehrsätzen von der Gleichheit (§.6).

 

 


 

Lehrsatz 7 (§20)

Alle geraden Linien sind ähnlich.

Beweis

Gerade Linien werden durch ihre beiden Endpunkte bestimmt. Nun haben wir (siehe Grundsatz 1) keine besondere Vorstellung von irgend einem bestimmten Auseinandersein zweier Punkte. Also ist jegliches Auseinandersein zweier Punkte dem anderen ähnlich. Also auch alle geraden Linien selbst.
 


 


 

Lehrsatz 8 (§21)

Zwei Dreiecke, in denen zwei Seiten um einen gleichen eingeschlossenen Winkel proportioniert sind, sind selbst ähnlich.

Beweis

Die bestimmenden Stücke dieser Dreiecke sind ähnlich. Diese sind (Lehrsatz 4) ein Winkel mit den Seiten, die ihn einschließen, oder (weil das Verhältnis einer Linie zu einer anderen, jene aus dieser bestimmt) ein Winkel, eine Seite und das Verhältnis der anderen zu der ersten. Nun ist der Winkel und das Verhältnis in beiden Dreiecken gleich, (folglich auch ähnlich), die eine Seite aber ähnlich; folglich sind die bestimmenden Stücke ähnlich.
 


 


 

Lehrsatz 9 (§22)

Ähnliche Winkel sind gleich.

Anmerkung (§23)

Bolzano fügt hinzu:

In ähnlichen Dreyecken sind also die Winkeln, die proportionirten Seiten entgegenstehn gleich.

 

 


 

Lehrsatz 10 (§25)

Im gleichschenkligen Dreieck sind die Winkel an der Grundlinie gleich: \( a=b \)

Beweis


 


 


 

Lehrsatz 11 (§26)

Es ist möglich, aus einem Punkte einer geraden Linie eine andere so auszurichten, dass die beiden Nebenwinkel, die sie mit den Segmenten jener bildet, gleich sind.

Beweis


 


 


 

Lehrsatz 12 (§28)

Es ist möglich, aus einem Punkte einer geraden Linie eine andere so aufzustellen, dass die gebildeten Nebenwinkel ungleich sind.

 


 

Lehrsatz 13 (§30)

Jedes System einer zu beiden Seiten ins Unbestimmte verlängerten geraden Linie und eines außerhalb ihr befindlichen Punktes ist jedem anderem solchen Systeme gleich.

 


 

Lehrsatz 14 (§31)

Es ist möglich, aus jedem Punkte außerhalb einer zu beiden Seiten ins Unbestimmte verlängerten geraden Linie eine andere zu ihr so zu ziehen, dass sie einen Winkel an derselben bilde gleich irgend einem gegebenen.

 


 

Lehrsatz 15 (§32)

Aus jedem Punkte außerhalb einer geraden Linie lässt sich eine und nur eine Linie auf die letztere so ziehen, dass sie gleiche Nebenwinkel an ihr bilde.

 


 

Lehrsatz 16 (§34)

Alle Winkel, die ihren Nebenwinkeln gleich sind, sind auch unter einander gleich.

 


 

Lehrsatz 17 (§36)

Wenn aus dem Punkte \( o \) die Linie \( oa \) lotrecht auf \( xy, \) und \( a \) die Mitte von \( mn \)  ist, so gelten

  • \( om = on \) für die Linien \( om \) und \( on \),
  • \( aom = aon \) für die Winkel \( aom \) und \( aon \),
  • \( amo = ano \) für die Winkel \( amo \) und \( ano. \)

 


 

Lehrsatz 18 (§37)

Umgekehrt, wenn bei dem Lot \( oa \) entweder gilt

  • \( om = on \) für die Linien \( om \) und \( on, \)
  • oder \( aom = aon \) für die Winkel \( aom \) und \( aon, \)
  • oder \( amo = ano \) für die Winkel \( amo \) und \( ano, \)

so ist \( a \) die Mitte von \( mn. \)

 


 

Lehrsatz 19 (§39)

Aus demselben Punkte \( o \) lässt sich nur eine Linie \( oa \) auf die Unbegrenzte \( xy \) so ziehen, dass sie mit demselben ins Unbestimmte verlängertem Teil \( ax \) dieser Linie einen gegebenen Winkel \( oax \) bilde.

 


 

Lehrsatz 20 (§41)

Eine Seite und die zwei ihr anliegenden Winkel bestimmen das Dreieck, dem sie zugehören.

 


 

Lehrsatz 21 (§42)

Wenn in zwei Dreiecken eine Seite mit den zwei anliegenden Winkeln gleich ist, so sind die Dreiecke selbst gleich.

 


 

Lehrsatz 22 (§43)

Wenn in zwei Dreiecken zwei Winkel gleich sind, so sind die Dreiecke selbst ähnlich.

 


 

Lehrsatz 23 (§44)

In jedem Dreieck ist die Summe zweier Seiten nie der dritten gleich.

 


 

Lehrsatz 24 (§45)

In einem rechtwinkligen Dreieck, und nur in diesem, ist (in arithmetischer Bedeutung) das Quadrat der Hypothenuse gleich der Summe der Quadrate der beiden Katheten:

\[ ab^2 = ac^2+bc^2\,. \]

 


 

Lehrsatz 25 (§46)

Drei Seiten bestimmen das Dreieck, dem sie zugehören.

Beweis


 


 


 

Lehrsatz 26 (§47)

Wenn in zwei Dreiecken die drei Seiten gleich sind, so sind die Dreieck selbst gleich.

 


 

Lehrsatz 27 (§48)

Wenn in zwei Dreiecken die drei Seiten proportioniert sind, so sind die Dreiecke selbst ähnlich.

 


 

Lehrsatz 28 (§50)

Wenn im Winkel \( xcy \) gilt

\[ ca : cb = cd : ce, \]

so stoßen die wie immer verlängerten \( ab, \) \( de \) nie zusammen.

 


 

Lehrsatz 29 (§51)

Auch sind die Lote aus \( a \) und \( b \) auf \( de, \) \( a\alpha=b\beta, \) wie auch ihre Abstände \( ab=\alpha\beta. \) Und die Winkel bei \( a, \) \( b \) auch recht.

 


 

Lehrsatz 30 (§52)

Wenn bei vier Punkten \( a, \) \( b, \) \( c, \) \( d \) vier Winkel

\[ abc=bcd=cda=dab=R, \]

so ist die Linie zwischen jeglichen zwei dieser vier Punkte gleich der Linie zwischen den beiden anderen:

\[ ab=cd,\quad ac=bd,\quad ad=bc. \]

Beweis


 


 


 

Theorem 31 (Bolzano §53)

Wenn ...

Beweis


 


 


 

Theorem 32 (Bolzano §56)

Jede Linie \( mv, \) welche beide Parallelen \( ab, \) \( \alpha\beta \) durchschneidet, bildet an denselben gleiche Nebenwinkel.

 


 

Theorem 33 (Bolzano §58)

Die Diagonalen \( a\beta, \) \( b\alpha \) im Rechteck schneiden sich in der Mitte.

 


 

Lehrsatz 34 (§59)

 


 

Lehrsatz 35 (§60)

 


 

Lehrsatz 36 (§61)

 


 

Lehrsatz 37 (§62)

 


 

Lehrsatz 38 (§63)

 


 

Lehrsatz 39 (§64)

 


 

Lehrsatz 40 (§65)

Beweis


 


 


 

Lehrsatz 41 (§66)

Wenn zwei Linien \( ab, \) \( cd \) entweder parallel sind oder zusammentreffen, eine dritte \( ac \) schneidet beide, und die vierte \( bo, \) welche mit der dritten entweder parallel ist oder zusammenstößt, schneidet die eine \( ab, \) so schneidet sie auch die andere \( cd \) oder ist mit ihr parallel.

Beweis
 

Der Beweis wird in drei Schritten geführt:

  • Wenn \( ab \) parallel zu \( cd, \) und \( bo \) parallel zu \( ac, \) so muss \( bo, \) welche die eine \( ab \) schneidet, notwendig auch \( cd \) schneiden. Denn nimmt man \( c\beta=ab, \) so wird \( b\beta \) parallel zu \( ac \) sein, also \( bo \) mit \( b\beta \) einerlei.
  • Stoßen \( ab, \) \( cd \) zusammen in \( x, \) aber \( ac \) parallel zu \( bo, \) so nehme man \( xa:xb=xc:x\beta; \) folglich (nach Lehrsatz 28) \( b\beta \) parallel zu \( ac. \) Also (nach Lehrsatz 34) \( b\beta \) mit \( bo \) einerlei.
  • Stoßen sowohl \( ab, \) \( cd, \) als auch \( ac, \) \( bo \) zusammen, so müssen \( bo, \) \( bc \) sich nicht notwendig schneiden. Aber eins von beiden: entweder \( bo \) parallel zu \( cd, \) oder sie stoßen zusammen. Denn hier ist der Fall, dass im Winkel \( bac \) zwei Linien \( cy, \) \( bx \) beide Schenkel schneiden, wo sich Lehrsatz 37 leicht anwenden lässt.