PROPOSITION I.1
Proposition I.1 (Konstruktionsaufgabe)
Auf einer gegebenen endlichen geraden Linie ist ein gleichseitiges Dreieck zu konstruieren.
Konstruktion und Begründung
Aufgabenstellung | ||
\( AB \) sei die vorgelegte Gerade, über der ein gleichseitiges Dreieck errichtet werden soll | ||
Vorbereitende Konstruktion | ||
1. | Konstruiere den Kreis mit Mittelpunkt \( A \) und Radius \( AB \) | (Post I.3) |
2. | Konstruiere den Kreis mit Mittelpunkt \( B \) und Radius \( AB \) | (Post I.3) |
Zwischenschritt | ||
3. | Beide Kreise schneiden sich in einem Punkt \( C \) | |
Abschluss der Konstruktion | ||
4. | Konstruiere von \( A \) nach \( C \) die gerade Linie \( AC \) | (Post I.1) |
5. | Konstruiere von \( B \) nach \( C \) die gerade Linie \( BC \) | (Post I.1) |
Beweis, dass \( ABC \) gleichseitig ist | ||
6. | \( \vdash\ AC = AB \) | (1, Def I.15) |
7. | \( \vdash\ BC = AB \) | (2, Def I.15) |
8. | \( \vdash\ AC = BC \) | (6, 7, Ax I.1) |
Damit ist die Aufgabe gelöst. \( \quad\Box \) |
Diskussion
Im dritten Schritt wird behauptet, dass sich die beiden vorher konstruierten Kreise in einem Punkt \( C \) schneiden. Das bedarf einer Erläuterung:
Die moderne axiomatische Geometrie setzt zur Sicherung der Existenz eines solchen Schnittpunkts Axiome der folgenden Art an den Beginn der Theorie:
Es war wohl Leibniz, der als Erster auf diesen kritischen Punkt in der Konstruktion aufmerksam machte.
Historische Quellen
Ziel des axiomatischen Ansatzes
Die spätere axiomatische Geometrie setzt zur Sicherung der Existenz eines Schnittpunktes \( C \) Axiome der folgenden Art an den Beginn der Theorie:
Pasch über die Notwendigkeit eines Schnittpunktaxioms
Eine sehr erwähnenswerte Quelle M. Pasch, dessen Vorlesungen über neuere Geometrie die moderne axiomatische Geometrie begründeten.
Es handelt sich darum, zu zeigen, dass (in einer Ebene) auf jeder geraden Strecke \( AB \) ein gleichseitiges Dreieck construirt werden kann. Zu dem Zweck wird (in jener Ebene) um den Punkt \( A \) mit dem Halbmesser \( AB \) ein Kreis beschrieben, ebenso um den Punkt \( B; \) vom Punkte \( C, \) in welchem die beiden Kreise sich schneiden, zieht man gerade Strecken nach \( A \) und \( B. \) Für jedes Glied des Beweises und jede in ihm gebrauchte Construction muss nun die Rechtfertigung erbracht werden, und zwar mittels eines vorher aufgestellten Satzes. Dass die beiden Kreise um \( A \) und \( B \) mit dem Halbmesser existiren, folgt in der That aus dem dritten Postulat, wonach gefordert werden darf, (in einer Ebene) um jeden Punkt in jedem Abstande einen Kreis zu beschreiben. Dass die geraden Strecken \( AC \) und \( BC \) existiren, folgt aus dem ersten Postulate, wonach gefordert werden darf, von jedem Punkt nach jedem andern eine gerade Strecke zu ziehen. Also bezüglich der beiden Kreise und der beiden Strecken ist Euklid im Stande, die erforderlichen Hinweise auf frühere Sätze zu geben. Es ist aber, unmittelbar nachdem die beiden Kreise eingeführt sind, vom Punkte \( C \) die Rede, in welchem sie sich schneiden. Nach welchem Satze existirt ein derartiger Punkt? Bei Euklid findet sich keine darauf bezügliche Angabe, und diese Lücke kann auch aus seinem Material nicht ergänzt werden, denn es geht dem ersten Lehrsatze keine Aussage voran, wonach jene Kreise sich schneiden müssen.
Proposition I.1 wird von Pasch auch deswegen hervorgehoben, weil durch die beigelegte Figur die mathematischen Notwendigkeiten zur Durchführung der einzelnen Konstruktionsschritte verschleiert werden. Wir lesen weiter:
Wenn es also Euklid's Absicht war, den Lehrsätzen des ersten Buches alle Beweismittel voranzuschicken, um sich später bei jedem Schlusse und jeder Construction auf dieselben berufen zu können, so hat er seine Absicht nicht vollständig erreicht. Er hätte beispielsweise in Rücksicht auf das erste Theorem den Satz mit aufnehmen müssen: „ Zwei Kreise in einer Ebene, deren jeder durch den Mittelpunkt des andern hindurchgeht, schneiden sich“; dieser Satz musste entweder ein Axiom abgeben oder als Theorem auf einen Beweis gestützt werden. Dass hier die dem Satze vom gleichseitigen Dreieck beigegebene Figur allein irregeführt hat, erkennt man sofort, wenn man den Beweis ohne die Figur herzustellen versucht. Nach wie vor kann man dann die beiden Kreise einführen, weil man über das dritte Postulat verfügt; um jedoch von da weiterzukommen, fehlt jede Handhabe, so lange man keine Figur vor Augen hat. Die Figur freilich lässt nicht in Zweifel darüber, ob der Punkt \( C \) existirt. Aber die Figur lässt auch die Existenz der Kreise um \( A \) und \( B \) und der Strecken \( AC \) und \( BC \) nicht zweifelhaft, und doch wird die Thatsache, dass solche Kreise und Strecken möglich sind, besonders ausgesprochen und angeführt. Mit welchem Rechte werden nun von den Thatsachen, auf denen die Construction beruht, und welche kaum in verschiedenem Grade einleuchtend und durch einfache Beobachtungen verbürgt sind, die einen ausdrücklich formulirt, die andern aber nicht?
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